In Gedanken…

Liebe, mir unbekannt gewordene Freundin,
jetzt wo der Schnee fällt und alles Harte und Schmutzige versteckt, denke ich an dich, frage mich, in welcher Welt, fern von mir du inzwischen unterwegs bist? Ich vermisse dich. Ja, ich hätte wieder telefonieren können, aber mir sind die Worte ausgegangen – eher eingefroren, erstarrt – die mir hätten helfen sollen, die Brücke zwischen uns zu restaurieren. Wie mag sich dein Leben anfühlen, allein und gefangen zwischen Funktionalität, schwarzen Gedanken und schlaflosen Nächten? So wie es gerade hier in Köln schneit, kann ich mir vorstellen, dass du schon fast eingeschneit bist. Mein Gedanken an dich sind durchzogen von Liebe und Segen. Möge der Schnee deine dunklen Gedanken heller und freundlicher machen, und dir mit seiner Stille die Ruhe schenken, die dir hilft zu überleben, deine Lichtbringerin
Bin ich traurig? Nein, eher melancholisch und in Gedanken an all das, was möglich gewesen wäre, aber nicht möglich wurde.
Wenn ich dir das Licht gebracht habe, dann hast du mich – ganz sicher – daran erinnert, dass alles Dunkle deutlich wird und ebenso machtvoll ist.

AURORA, DIE AUF DEM SEIL TANZT 18

23.6

Liebster Traumtänzer,

ich bin auf dem Weg zu deiner Insel. Ja, ja, es ist so weit, das Jahr wendet sich. Heute sah ich Feuer brennen. Wie wunderbar, sein Stoffhaus unter dem Sternenzelt aufzubauen und drüben auf der anderen Seite des Flusses die Funken stieben zu sehen. Eine turbulente und angestrengte Zeit liegt hinter mir, habe fast jeden Tag eine Vorstellung auf diversen Marktplätzen gegeben. Stell dir vor, gestern sprach mich ein Mann an, wollte wissen, ob ich Interesse daran hätte, als Seiltänzerin in einem Film mitzuwirken. Wir tauschten die Adressen aus und verabredeten uns zum Gespräch über den Film im September. Danach werde ich Jule in Wien besuchen. Das Wetter in den letzten Tagen hat mir zugesetzt. Für diesen Sommer habe ich mein Geld redlich verdient. Ich sitze vor dem Zelt und lausche auf die Geräusche: die Kinder sind still jetzt, schlafen nach dem aufregendem Ferientag, aber im Zelt gegenüber spielen zwei Gitarristen spanische Musik, und vom anderen Ufer erreichen Trommelklänge mein Ohr. Ich bin gar nicht müde. Es gelingt mir nicht, einfach den Abend mit seiner Schönheit zu genießen. Meine Gedanken sind wie Zugvögel, sie kommen immer wieder zurück. Ich vermisse ein „Du“ eins, dem man sein Herz ausschütten kann; eins, bei dem die „Zugvögel“ zwischenlanden können, bevor sie in den Süden ziehen; eins was einfach da ist. Es wäre so wunderbar die innersten Gedanken mit jemandem zu teilen. Du könntest dieser Jemand sein, aber real gibt es dich ja nicht. Obwohl immer unter den Menschen, bin ich allein. Die Leute verstehen mich nicht. Oder verstehe ich die Leute nicht? Ich weiß nicht, bin zuviel mit mir allein.

Bald sind die schwarzen Kirschen reif. Das Meer ist nicht mehr weit. Ich lege den Brief in eine Rotweinflasche und werfe sie in den Fluss. Vielleicht erreicht er dich. Ich vermisse die weiße Brieftaube.

Aurora, mit den Tanzbeinen

AURORA, DIE AUF DEM SEIL TANZT 17

18. 5

Hallo lieber Traumtänzer,

du bist mir abhanden gekommen, scheinst weit weg zu sein. Ich würde dich so gern erreichen. Hast du dich vielleicht für eine Weile ins Schneckenhaus verzogen? Quäl dich nicht zu sehr. Lass das Dunkle dich nicht überwältigen. Schau, ich schicke dir Licht und warme Energie. Bald ist Sommer und die Schwarzkirschen reifen.
Zwei Wochen habe ich nun meine Reise unterbrochen, Zeit zum Innehalten und Bleiben. Es war ein bisschen schwierig, aber meine kleine Schwester nahm mich auf. Ich berichte ein anderes Mal davon. Alles ist noch so frisch, muss erst sacken. Aber seit heute Morgen bin ich wieder unterwegs, muss mich halt dem Wetter fügen. Ich fließe, bin ein Fluss, der Ozean ist mein Ziel und die Insel, auf der du lebst. Morgen werde ich in Bremen tanzen, und „Die Bremer Stadtmusikanten“ schauen zu – smile!

Aurora, die dem Wind in den Blättern lauscht

Vom grünen König, die Dritte

Einst traf ich Katharina. Sie war traurig. Ich tröstete sie und kämmte ihr das kastanienbraune Haar mit einem goldenen Kamm.
So kam es, dass sie mir eine Geschichte erzählte:

„Der grüne König lebte wie ein Fisch im rubinroten Meer. Ab und zu wurde es ihm langweilig in seinem Reich am Grund des Ozeans. Er sprang hoch über den Wellen, wie ein Delphin. So sah ich ihn an jenem Tag, als ich mich entschlossen hatte, einem Ruf zu folgen, den ich in meinem Inneren gehört hatte. Ich lieh mir von den Fischern im Hafen ein blaues Boot und segelte hinaus zu der kleinen Insel hinter dem Horizont.
Wenn ich gewusst hätte, was mit mir geschehen wird, ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte, mich diesem Abenteuer zu unterwerfen.

Der Fisch und ich – unsere Blicke trafen sich und etwas schwirrte plötzlich durch die Luft: regenbogenfarbige Liebesäpfel.
Da war etwas, das hatte ich noch nie erlebt.
Kennst du das Gefühl, endlich nach langer Reise angekommen zu sein, und zu begreifen, was es heißt, zu Hause zu sein?
Für einen Menschen, der vor langer Zeit sein Zuhause verloren hat, ist das wie ein Wunder.
Der Fisch war riesengroß und verschlang mich mit einem Biss. Nichts hatte ich ihm entgegen zu setzen, denn die Liebe, die mich ihm verband machte mich wehrlos. Eine Liebe, die anders ist, als die zwischen Mann und Frau.

Der Biss tat nicht weh. Eine spiralförmige Rutschbahn wie aus rosaroten Perlmutt führte mich in den inneren Garten des Fisches. Dort lebte ich eine Weile. Es ging mir gut, denn der Fisch verstand mich, wie kein anderer und nährte mich mit allen seinen gesammelten Worten. Ohne es zu wissen, habe ich schon immer darauf gewartet. Begierig labte ich mich an ihnen, konnte nicht satt werden. Ich wuchs, und es wurde enger um mich herum. Schon bald füllte ich den gesamten Garten aus. Ein wenig später konnte ich kaum noch meine Glieder bewegen.

Der Fisch verlor seine Worte. Ich lag ihm schwer im Magen, und eines Tages spie er mich aus. Ich flog durch die Luft zurück in den Hafen, wo mich keiner vermisst hatte. Ich war ganz allein, fühlte mich verloren und konnte vor Kummer kaum atmen. So setzte ich mich in den sommerwarmen Sand, bis eine Möwe sich neben mir nieder ließ und mich tröstete.

Der Schmerz brandete in mir wie Ebbe und Flut. Es wurde Nacht und wieder Tag. Als sich die Nacht zum dritten Mal über mich senkte, hatte ich keine Tränen mehr. Zum Glück wurden die Gezeiten des Schmerzes um den Verlust flacher. Wäre die Möwe nicht bei mir geblieben, mir wäre das Herz gebrochen.
Das ist nun sieben Jahre her – eine lange Zeit – aber die Sehnsucht ist geblieben. Ab und zu gehe ich zum Strand und schaue hinaus auf die Wellen: und manchmal für einen kleinen Moment sehe ich ihn, und er sieht mich – und die Liebesäpfel fliegen – tragen trotz der Ferne eine beglückende Botschaft. “

Katharina hatte sich unter meinen kämmenden Bewegungen allmählich entspannt. Ihre Geschichte plätscherte dahin, wie die unterirdischen Quellen einer vergessenen Höhle. Mit dem gleichbleibenden Auf und Ab der Stimme, fiel sie in eine Art Trance.
Als die Geschichte endete waren auch die langen Locken gebändigt und ich sprach:

„Komm, ich nehme dich mit in die Gärten der Hesperiden. Dort bette ich dich unter dem Baum mit den goldenen Äpfeln, und es wird heilen, was heilen muss.“

AURORA, DIE AUF DEM SEIL TANZT 16

3.5

Lieber Leuchtturmwärter,

ich schwebe über das Seil durch den Frühling – alles ist so ungewöhnlich, fast surrealistisch. Manchmal zeichnen sich Male in die Gesichter der Zuschauer, ihre Münder sind weit aufgerissen und verzerrt, und in den Augen lodert Angst. Sie werden fahrig und halten den Atem an. Unter die Wangenknochen malen sich dunkle Schatten. Die Haut scheint in ein sonderbares Licht getaucht. Sie wissen nicht, dass es für mich auf dem Seil sicherer ist, als zu ebener Erde. So bin ich in ihren Augen wohl weder Mensch noch Vogel. Keine blaue Feder findet das Kind. Aber es lacht und wirft mir eine Kusshand zu. Ich verneige mich vor ihm, und es beschenkt mich mit leuchtenden Augen. Ich schlage ein wenig mit den Flügeln, gewinne Wind, und fliege mit den Gedanken, wohin ich will. Gestern war wieder Flut: wohin mit den traurigen Gefühlen, wenn der so vielversprechende Tag mit Tränenfluten beginnt? Einmal mehr stelle ich fest, dass ich nicht überall hinfliegen sollte. Es gibt Erinnerungen und Themen, die mich dem Abgrund nah bringen – gefährlich!
Manchmal aber gehe ich mit Absicht in den Schmerz hinein, wie in einen dunklen Tunnel, gewiss, am Ende wartet Licht. Die Menschen können einander nicht retten, aber sie können sich die Hände reichen, einander liebevoll begegnen und Trost spenden. Gute Wegbegleiter können sie sein, eine lange oder kurze Weile. Denkst du mal an mich, wenn die Sonne im Meer  versinkt und alles rotgülden glänzt? Der Schmerz und die Freude,  Lachen und Weinen. Alles liegt dann ganz nah beieinander. Ich denke oft an dich, frage mich, wie es dir wohl geht auf deiner einsamen Insel.

Aus der Ferne umarmt dich deine Aurora

Aurora, die auf dem Seil tanzt 15

25.4.

Liebster Traumtänzer,

Kennst du das? Du steigst am Morgen mit dem falschen Fuss aus dem Bett, tapst ins Badezimmer und stolperst dabei über ein Paar Schuhe. Im Kopf ist Watte und kein klarer Gedanke findet hinaus. Du möchtest weinen wie ein kleines Kind und von einer Mutter getröstet werden. Du tust dir selbst so leid, dass nicht mal der Frühlingshimmel eine Chance hat, dich fröhlich zu stimmen.
Und dann stehst du im Badezimmer vor dem Spiegel mit deinem verwuselten Haaren, dem Knitterkleid einer schlaflosen Nacht und den gezackten Fragezeichen auf der Stirn. Selbst die Nase wirkt spitz und die Lippen sind ein schmaler farbloser Strich. Die Wangen scheinen hohl.

Und dann schaust du dir in die Augen, streckst die Zunge heraus, und es ist wieder da, das Funkeln in den Augen. Und plötzlich bricht das Lachen aus dir heraus. Du lachst dich selbst aus. Du zeigst mit dem nackten Zeigefinger auf dein Spiegelbild – obwohl deine Mutter dir beigebracht hat, dass man niemals unter keinen Umständen mit dem nackten Finger auf angezogene Leute zeigen darf – und kicherst wie ein junges Mädchen oder wie ein schüchterner Jüngling wenn er seine heimliche Auserwählte erblickt.
Du schüttelst und rüttelst dich, wie Goldmarie den Apfelbaum in Frau Holles Garten schmeißt die Locken hinter dich.

In diesem Moment hast du gewonnen. Du hast die nächtlichen Träume abgeschüttelt.Die Watte im Kopf löst sich auf.  Du bist wach: lebendig, neugierig, unternehmungslustig.
Die Welt wartet auf dich.
Gutgelaunt brühst du dir Kaffee auf und beißt in dein Käsebrot und in den verbotenen Apfel.

Ich bin auf einem Schiff. Es schippert über die Weser. Gestern war ein erfolgreicher Tag. Das Wetter spielt mit. Wie schön es ist, unterwegs zu sein.

 

 

Ich umarme dich mit Überschwang – pass auf, daß du fest stehst – deine Aurora

Aurora, die auf dem Seil tanzt 14

21.4.

Hallo lieber Traumtänzer,

ist die Sicht klar bei dir? Ich stand eben auf dem Seil, und die Aussicht war überwältigend: Menschen über Menschen; Sonne und dieser Duft nach grüner Wiese und den ganzen Blüten. Überall duftet jetzt der Flieder. Und die Kastanien haben ihre Kerzen aufgesteckt. In meinem Klingelbeutel klingelt´s ordentlich. Hört sich richtig gut an. Ich mache jetzt drei Tage Pause, bin in der Rattenfängerstadt Hameln gelandet und werde bei einer alten Freundin wohnen. Gestern hörte ich Jule : Vom Inhalt ihrer Lesung – sehr poetisch und bezaubernd – sind außer die Farbe Rot in allen Nuancen, vor allem Gefühle hängengeblieben: in dem Buch geht es um eine, die auszog, das Gruseln zu lernen.
“ In einer zweijährigen Kunsttherapie malt eine junge Frau ihre Geschichte in übereinander gelagerten Schichten auf die Leinwand. Entstanden ist ein abstraktes Gemälde, in dem die Konturen nur angedeutet sind. Das Bild scheint den Betrachter aufzusaugen, in einen Bann zu ziehen, bis er zwischen bedrohlichen Schatten aus einem Meer voll Energie und Leuchtkraft wie neu wieder auftaucht .“
Jule hat eine faszinierende Stimme. Man möchte sich darin einkuscheln und nicht mehr weggehen.
Ich traf sie neulich in der S-Bahn. Wir saßen uns gegenüber, und sie konnte den Blick nicht von meinen grauen Rattenschwänzen lassen. Ich erfuhr, dass sie in Wien lebt und ihre Eltern im Rheinland besucht hat, bevor sie zur Prämiere ihrer Lesereise aufbrach. Wir, beide im Aufbruch, kurz vorm Durchstarten, beim Abflug – kamen schnell miteinander ins Gespräch und verabredeten uns zur Lesung.
Sie wirkt ein wenig verloren auf mich, so als habe sie viel gewagt und wenig dabei gewonnen. Hat sie einen zu hohen Preis bezahlt? In ihren weiten Kleidern scheint sie zu verschwinden. Aber das wilde kastanienbraune Haar lässt sich weder zähmen noch übersehen. Sie erzählte mir, dass sie in den letzten Monaten Boden unter den Füßen verloren hat und nun neuen Grund sucht. Dunkle Schatten liegen unter den hohen Wangenknochen und geben ihrem feingezeichneten Gesicht mit den Lachfältchen in den Augenwinkeln etwas Tragisches.
Sie und ich, wir werden in Kontakt bleiben. Ich bin neugierig auf diesen Menschen. Und? Ja, Sie berührt mich!

Sanfte Abendgrüße schickt dir für heute Aurora

Aurora, die auf dem Seil tanzt 13

17.4.

Guten Morgen lieber Seebär,

ich hoffe, du hast so gut geschlafen wie ich. Vielleicht warst du gar schon auf dem Wasser. Apropos Wasser. Gestern schrieb ich dir: „Ist nicht das Wasser die Weltenseele, über die wir alle miteinander verbunden sind?“
Vielleicht fragst du dich, wie ich auf diesen Gedanken gekommen bin . Nun ich will es dir erklären, denn ich träumte von….:

„Es war einmal ein Bauernmädchen. Das lebte in der Nähe eines munteren Baches, zwischen Feldern und Wiesen bei den Eltern, mitten in einem wunderschönen Garten. Gerade war Frühling, und auf der Obstwiese blühten die Bäume. Das Mädchen, nennen wir es Trine, saß gern unter den Bäumen im Garten und sah ihnen beim Wachsen zu. Trine war gerade zum Frühlingsbeginn dreizehn Jahre alt geworden. Sie war schon vertraut mit allen Pflanzen, den Gänsen, die sie jeden Tag zu hüten hatte, aber auch mit dem Wasser. Jeden Tag besuchte Trine – wenn alle Arbeiten erledigt waren- zuerst den Garten und schlüpfte anschließend durch die kleine blaue Heckenpforte zum Lieblingsplatz am Fluss. Dort stand zwischen zwei alten Weiden eine verwitterte Holzbank. Darauf ließ es sich wunderbar träumen. Manchmal nahm Trine ein Buch mit, oft saß sie aber einfach dort und schaute ins Wasser. Es war zu jener Zeit, als man tagsüber noch ohne große Angst überall hingehen konnte. Nur im Dämmerlicht musste man achtsam sein. Deshalb erwarteten Vater und Mutter, dass sie vor dem beginnenden Zwielicht wieder zu Hause war. Manchmal vergaß Trine die Zeit auf der Bank. Sie war so vertieft in das Wasser, dass sie fühlte, wie sie selbst zum Bach wurde: sie war in den kleinen Strudeln und in den Lichtreflexen oder ritt erhitzt auf den Wellen, als seien es wilde Pferde, die mit ihr durch die kirgisische Steppe galoppierten. Oder sie schwamm mit den Wassernixen und Heckenzwergen im seichten Wasser jenseits der Brücke.
Der Bach mit allem was dazu gehört, war auch in ihr. Sie spürte sein Fließen im Blut. Ja sie konnte es vor ihrem inneren Auge sehen, wie der Bach durch die verzweigten Blutbahnen bis in Finger-und Fußspitzen schwamm. Herrlich, wie das kribbelte. So mussten sich die Bäume spüren, wenn die Wurzeln in der Erde unaufhaltsam nach Wasser suchten, und es durch den Stamm bis in die feinste Verästelungen der Baumkronen transportierten. Sie fragte sich, ob Bäume kitzelig sind, und musste über diesen Gedanken lauthals lachen, ja sie prustete und kicherte, dass sie fast von der Bank gepurzelt wäre.
Das Wasser sammelte sich unter der Erde, wurde Rinnsal, entsprang in einen Bach, wurde zum Strom und ergoss sich im Meer, verdunstete und sammelte sich in Regenwolken, die jetzt gerade über dem Rübenacker regnete. All das wusste das Mädchen. Schließlich war sie ein Naturkind und für ihr Alter sehr weise, und jetzt hatte sie die Zeit vergessen – es war schon fast dunkel – Mond und Sterne spiegelten sich im Wasser, und sie begann sich zu fürchten.
Zum Glück kam gerade Wolfi schwanzwedelnd durch die Hecke gelaufen um sie abzuholen. Die Eltern hatten ihn rechtzeitig geschickt.“

Und ich? Ich habe dir jetzt den Beginn einer langen Geschichte erzählt, obwohl ich etwas ganz anderes vor hatte. Was alles in der kurzen Zeit geschehen ist, seit ich reise – Wahnsinn – wollte dir doch noch von Jule erzählen. Ich wette, du bist jetzt neugierig geworden. Schaun wir mal, wies morgen weiter geht.

Luftige Apfelblütengrüße schickt Aurora im grünen Trikot, die gleich wieder tanzen wird.

Aurora, die auf dem Seil tanzt 12

16.4.

Hallo lieber Traumtänzer,

ganz gewiss bist du es, von dem ich nachts immer träume, mein echter, wirklicher Freund. Ahnst oder weißt du es? Ich bin unterwegs – hüpf – Aurora hat ihr Bündel gepackt und ist dem Alltagseinerlei entflohen. Ich fühle mich frei und gelöst, wie lange nicht, habe es geschafft, die Schwelle zu überschreiten. Hatte erst noch einen heftigen Kampf mit dem kleinen schwarzen Teufel, weißt du, der mit den roten Hörnen, der mir immer dazwischen redet, Recht behalten will und ein unleidlicher Giftzwerg ist, ein richtiger Miesepeter, Schlechtwetterprognostizierer – eben der, der mich daran hindern will, zu tun, was ich tun möchte. Diesmal habe ich ihn besiegt. Es ist so toll, so unbeschreiblich: ich wachse wie eine Riesin in die Höhe. Wie stark ich plötzlich bin. Morgen kannst du mich auf Wolke Sieben abholen. Es fühlt sich gut an, unterwegs zu sein. Dabei nutze ich alle verfügbaren Möglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs. Jetzt gerade ruhe ich mich aus, habe meinen Abendplatz gefunden. Das Zelt steht schon, und gerade habe ich im Wasser den ersten Stern gesehen. Meine Füße baumeln im Wasser zwischen den Algen und Fischen. Ach tut das gut nach dem langen Fußmarsch. Auf dem Kocher zieht frische Minze im Teewasser. Es duftet!

Seit vorgestern bin ich unterwegs. Gestern spannte ich mein Seil in einer Kleinstadt auf. Zuerst waren die Kinder da, dann kamen die Eltern und die Laufkundschaft. Auf dem Marktplatz war Hochbetrieb. Alles klappte und die Zuschauer entlohnten mich begeistert und großzügig. Habe jetzt genug für eine Woche. Eine junge Frau bot mir ein Nachtlager an und bewirtete mich reichlich. Es war ein geselliger Abend, und ich schon ein wenig traurig, heute Morgen wieder aufzubrechen.
In der S-Bahn saß mir ein etwa gleichaltrige Frau gegenüber, aber von der erzähle ich dir ein anderes Mal. Sie heißt Jule und kommt aus Wien. Ich bin müde.
Und du, mein Freund, was tust du? Du läufst unruhig über die Insel. Was treibt dich so? Dich zieht es zum Festland, du brauchst Menschen, Nähe, ein bisschen Körperwärme. Dir fehlt eine Frau. Zwar bin ich nicht die deine, aber ich komme, spätestens, wenn die Klaräpfel reif sind. Du wirst es wissen; wenn sich zum ersten Mal der Herbst in den Sommer mischt, dann erwarte mich auf deiner Insel.
Ist nicht das Wasser die Weltenseele, über die wir alle miteinander verbunden sind?

Es grüßt dich von Herzen eine flohfrohe Drahtseilakrobatin.

Aurora, die auf dem Seil tanzt 11

7.3.

Lieber Freund,

meine Seele weint und das Herz tut weh. Manchmal lache ich trotzdem, denn man kann nicht immer traurig sein und vor Wehmut ganz schwach. Und dann schaue ich zum Fenster hinaus und sehe, dass der Apfelbaum treibt und die Osterglocken mir ihr freundliches Gelb schicken. Ich sehe die Veilchen unter den Heckensträuchern und viele bunte Krokusse. Ich denke an Ostern und schmücke mein Haus mit Blumen. Dann werde ich ganz leicht, öffne weit das Fenster und lasse meinen Bruder den Wind hinein. Ich mache mir Musik, lausche verschwimmenden Klängen und tanze selbstvergessen bis ich erschöpft bin.
Und dann höre ich die Amsel singen, so süß, dass mir das Herz schwer und leicht zugleich wird, und die Tränen fließen. Manchmal weiß ich nicht, ob vor Glück oder vor Kummer.
Verstehst du mich? Ich sehne mich nach etwas, dass ich nicht bekommen werde, und ich schaffe es nicht, mit mir ins Reine zu kommen. Manchmal hasse ich mich dafür, schimpfe mit mir, aber mein Herz lässt sich nicht betrügen. Es lässt sich nichts ausreden und es vergisst nicht. Verstehst du mich? Ich verstehe mich nicht: es ist Frühling, die Luft mild und die Tage sind schon länger.

Und ich? Ich bin ein trauernder Kloß, werde älter, meine Jugend verschwindet. Ich frage mich, wie lange noch das Seil mich trägt. Ich muss raus aus diesem geschlossenem Kreis, noch einmal etwas neues wagen. Lieber würde ich mit einem Gefährten gehen, aber da ist niemand.

Kennst du diese verzehrende Sehnsucht, nach etwas, von dem du noch nicht einmal weißt, was es ist? Du gibst ihm tausend und einen Namen, und keiner passt wirklich. Alles viel zu ungenau. Niemals schafft die Sprache es, auszudrücken, was genau ein Mensch empfindet.

Ich rolle als Trauerkloß übers Seil – immerhin muntert mich diese Vorstellung auf – das hat was, deine Aurora