Stimme 5

„Was ist los Spatz,“ pflegte mein Vater mich zu fragen, wenn ich im Teenageralter mal wieder trübsinnig und gelangweilt in der Sofaecke saß, „ zieh doch nicht so ein langes Gesicht.“ Er sagte es stets liebevoll, und oft konnte ich dann weinen und ihm mein Herz ausschütten. Er war der einzige, bei dem ich das konnte, ein Fels in der pubertierenden Brandung.

Einmal, ich kam vom Friseur sprach mich auf der Straße jemand an. Es war ein junger Mann aus der Nachbarschaft: „Eh, du siehst fast aus wie Mirelle Mathieu.“ 

Ich soll aussehen wie diese Sängerin? Das schmeichelt mir und ließ mich innerlich erröten. Naja meine Haare waren dunkel, ich trug einen Pagenschnitt und meine haselnussbraunen Augen hatten einen sanften, freundlichen Ausdruck.   Wie ein scheues Reh mit langen wohlgeformten Beinen sei ich ausgestattet, kommentierten mich andere Menschen in meinem Umfeld.
Ich glaubte das nicht, fand diese Bemerkungen durch und durch absurd, denn ich kam mir wie eine viel zu dürre Bohnenstange vor, weder Fisch noch Fleisch.
Mirelle Mathieu kannte ich aus Radio und Fernsehen, und wir hatten etwas gemeinsam. Beide waren wir die älteste Schwester von vielen Geschwistern. Ich mochte ihre Stimme, fand sie allerdings in Konzerten immer etwas steif und  unnahbar.

Mit ihr kam ein fremdes Land zu mir und seine besondere Stadt Avignon. Das Lied von der „Pont d´Avignon“ kannte ja jeder aus dem Schulunterricht.

Wenn ich mal wieder in dieser missmutigen , gelangweilten Stimmung war oder mich über mobbende Altersgefährten geärgert hatte, zog ich einen Schmollmund und träumte mich in eine Zukunft, in der ich es allen zeigen würde. Und ich sah mich auf einer Bühne. Der Vorhang öffnete sich, das Orchester begann zu spielen, und ich sang in schwarzen,  eleganten Kleidern meine Chansons, so wie der Spatz von Avignon.
Meine innere Stimme „Aurora“, von der ich schon erzählt habe,  hat diese Idee aufgenommen und mir eingeflüstert, mich auf meiner ersten Fete als Südfranzösin auszugeben, die kaum Deutsch sprechen konnte.

Viel, viel später wurde Frankreich mein absolutes Lieblingsreiseland.

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