Hallo mein lieber Traumtänzer,
ich bin seit Januar zurück. Mein Herz ist schwer, denn ich musste den Liebsten ziehen lassen, eine leidenschaftliche Episode, die im Winterquartier ihr voraussehbares Ende fand: Frau und Kinder warteten dort. Ich war vorbereitet, denn Miguel machte mir von Anfang an klar, dass wir nur eine begrenzte Zeit miteinander verbringen können und egal was auch geschieht, seine Familie Vorrang hat. Ich habe mich eingelassen und nichts bereut. Seine Zärtlichkeit hat mich tief berührt – unsere Körper waren füreinander geschaffen. Und die Seelen erkannten sich. Er hat mich gelehrt, dem Leben und mir selbst zu vertrauen, jeden Augenblick, wie ein Geschenk zu betrachten und die Fülle in mir selbst zu sehen. Ich weiß noch nicht, was ich mit meiner Sehnsucht tun werde – im Moment brandet sie in mir wie Ebbe und Flut an deinem Strand – aber es werden sich Wege öffnen. Manchmal ist ja die Sehnsucht die größte Triebfeder für kreatives Wachstum.
Miguel und ich werden uns wohl nicht wieder sehen, denn im nächsten Sommer ist er in einem anderen Zirkus engagiert, und ich werde mein Film-Projekt verwirklichen. Du erinnerst dich an die Anfrage vom Juni, bevor der Zirkus mich einfach mitgenommen hat? Dieses Projekt wird jetzt wahr. aber doch bin ich dankbar für alle Erfahrungen, die ich mit dem Wanderzirkus unterwegs machen durfte.
Die letzten Wochen verschlief ich, denn so ein Nomadenleben ist anstrengend, auch das ungewohnte Zusammensein mit so vielen Menschen. Ich hoffe, du hast den Winter auf der Insel mit dem roten Leuchtturm gut überstanden. Es war ja Sturm letzte Woche. Ich sah aus meinem Dachfenster die hohen Wellen.
Ich traf Jule aus Wien zwischen den Monaten. Auf einer S-Bahnfahrt im letzten Sommer saßen wir im gleichen Abteil, beide traurig damals.
Sie befand sich auf einer Lesereise und ich tingelte seiltanzend durch die Städte.
Sie hat mich in ihrem Tagebuch verewigt, und mir diesen Text mitgebracht.
Wie sie mich beschreibt, so bin ich:
„Das Mädchen war nicht jung.
Die mausgrauen Haare trägt sie zu Rattenschwänzen gebunden hinter den kleinen Ohren. Die Augen sind von unbeschreiblicher Farbe: in einem hellen Bernsteinbraun tanzen grüne Sprenkel. Ein tiefes Grau umrahmt die Iris.
Das schmale Mädchen gleicht einem Knaben. Winzige Brüste zeichnen sich ab unter dem engen geblümten Trikot, und die kaum gerundeten Hüften wiegen sich beim Gehen. Ein langer Schal flattert feminin um den Hals und wippt mit den Zöpfen im Takt – fast, als sei er eine Fahne im Wind.
Lacht dieses alte Mädchen jemals? Unter großen ausdrucksvollen Augen und einer zierlichen Nase wirken die zusammengepressten Lippen schmal und streng.
Die Haut ist hell und einzelne Sommersprossen zieren die Wangenknochen.
Und doch, in diesem Wesen liegt etwas ungemein Bezwingendes.
Es schaute die Menschen an, verschenkte ohne Koketterie tiefe Blicke. Entgeht diesem Blick jemals etwas?
Wie aus heiterem Himmel lacht dieses Gesicht plötzlich, verzieht sich spitzbübisch, fast koboldhaft.
Faszinierend: im einem Augenblick erscheint das Gesicht uralt und im übernächsten schon jung, wie das blühende Leben. Es kommt wohl auf das Licht und die Tagesform an.
Über den Augenblick schiebt sich ein stummer Film: ich sehe eine Clownin auf dem gespannten Seil. Sie dreht dem Publikum eine lange Nase.
Bevor sie aussteigt und meinen Blicken entschwindet, beugt sie sich zu mir herüber: „Übrigens, ich heiße Aurora.“
Ich glaube fast, wir werden Freundinnen. Sie hat versprochen, mir beim Ordnen und Korrigieren der aufgeschriebenen Zirkuserlebnisse zu helfen.
Es grüßt dich von Herzen, deine seiltanzende Aurora