Lieblingssätze 4

Aus dem Buch „Jahre mit Martha“, das im Kölner Stadtanzeiger MAGAZIN vorgestellt wurde und nun auf meiner Buchliste steht. Autor: Martin Kardic´

„Meine Geschichte will ich erzählen, weil ich glaube, dass wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land.“

Über mich und diese Stadt, möchte ich erzählen, in die ich aus dem ländlichen Paradies meiner Kindheit vertrieben wurde.

Krass ausgedrückt, aber so kam es mir damals mit sieben Jahren vor. Alles fremd, keine bekannten Gesichter. Ein Puppenhaus zum Leben, in dem es viel zu eng war, mit Mauern darum herum, aus denen meine Mutter mich nur entließ, um zur Schule zu gehen. Das Haus war nicht wirklich klein, hatte einen Garten und vor der Haustüre einen Weg, auf dem die Kinder aus der Straße sich treffen, miteinander spielen oder raufen konnten. Aber im Gegensatz zu dem Bauernhof auf dem Lande, mit den vielen Zimmern, Ställen, Hofgebäuden, Tieren, dem großen Garten, der Obstwiese, den Feldern und der lebendigen Dorfgemeinschaft war nicht nur mein Bewegungsraum eingeschränkt, sondern auch der Erfahrungsraum. Die größte Mauer aber war die Angst meiner Mutter, die mich vom Außen trennte. Es dauerte Jahre bis ich den Ausgang fand.

Wurzeln 13

Großmutterhaus (1)

Das alte Haus, der Bauernhof meiner Großmutter, ist ein Geschichtenhaus und auch wenn es inzwischen abgerissen ist, bleibt es in meiner Erinnerung intakt. Ich kann es begehen, die Räume besuchen, vor den verbotenen Türen stehen, mich vor dem alten Gewölbekeller gruseln oder den Geschichten darin nachspüren. Es ist wie ein sicheres Gehäuse in meinem Inneren verankert. Es steht mir jederzeit offen, damit ich Schätze bergen, Wurzeln erforschen und Geschichten erinnern kann.
Das Haus hatte schon eine Geschichte, bevor ich geboren wurde, gespeichert darin auch ein Stück Familiengeschichte über gute und in schlechte Jahre. Die ersten sieben Jahre meines Lebens durfte ich dort mit Großmutter, Eltern, Geschwistern, Tanten und Onkeln leben. Diese Kindheit hat mich fürs Leben geprägt.

Die Geschichte geht weiter

aber nicht sofort. Im Augenblick bin ich mit meinem Fernstudium „Biografisch Schreiben“ beschäftigt. Jetzt wird es ernst. Ich muss mein Thema eingrenzen, eine Form finden und das erste Kapitel schreiben. Mir ist das Ganze sehr ernst. Ich will lernen, merke gerade auch, dass ich gerne wieder etwas mehr Lyrik schreiben würde. Unter euch sind ja einige Schreibende, deshalb trau ich mich mal euch etwas vorzustellen: wenn ihr folgende Zeilen lesen würdet, wäre dann eure Neugier auf das dazugehörige Buch geweckt?

Glaubst du an Wunder und daran, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als wir verstehen können oder daran, dass es Begegnungen gibt, die nicht der Zufall dirigiert?
Mich traf eine solche Begegnung völlig unerwartet an einem Hamburger Schneetag im März. Die interaktive Brieftaube brachte eine Email. Es waren nicht die Worte und Sätze, die mir die Tür zu einem unbekannten Kosmos öffneten. Es war etwas zwischen den Zeilen, das zu mir herüber wehte und einen Duft zurück ließ, der mein Herz laut klopfen ließ und die Gefühle durcheinander wirbelte. Die Zeit hielt den Atem an. Danach war nichts mehr wie zuvor.

SECHS WABEN SCHON

Frau Lillac hat an einer Geschichte gestrickt. Sechs Waben aus bunter Wolle liegen fertig vor ihr. Sie hat nicht gemerkt, wie es sich immer weiter -fast wie von selbst- gestrickt hat und ist über sich selbst verblüfft. Es war wie im Traum und ging ihr gut durch Kopf und Hände. Irgendwann wird sie alles zusammen nähen. Noch ist es nicht so weit. Wenn die Nächte zum Winter hin länger werden, bleibt mehr Zeit und Muße, um weiter zu stricken, Wabe um Wabe, bis ein Ganzes daraus entsteht. Es bleibt Wichtiges zu erzählen. Die Wolle im Korb ist noch lange nicht verstrickt.

GESCHRUMPFT

Was habe ich da erzählt von dem Wal, der mich getragen hat, damit ich in ein kleines Boot schauen kann. So ein Unsinn, oder war es doch kein Unsinn? Irgendetwas ist passiert, denn ich liege in einem Boot und draußen tobt der Sturm. Neben mir liegt ein kleines Kind. Es schläft, vielleicht schon seit einhundert Jahren und wird nicht wach. Ich friere und kuschle mich zu ihm unter die Decken, nehme es vorsichtig in den Arm. Es ist warm und riecht nach Milch. Seltsamerweise bin ich nicht mehr groß. Etwas im Boot hat mich verzaubert. Oder war es der Wal, dessen Absichten ich nicht kenne? Ich kann nichts tun, bin klein wie das Kind neben mir. Sind wir Zwillinge, habe ich gerade im Boot mein anderes Ich gefunden? Den Schatten, den ich bisher nicht ausloten wollte?Seltsamerweise verspüre ich keine Angst. Es wird geschehen, was geschehen soll. Alles steht schon lange geschrieben und wird sich auf die ein odere andere Seite erfüllen.

Ich schaue auf das Strickstück in meinen Händen, es ist wabenförmig. Der Anfang einer Geschichte, die an allen sechs Seiten weiter gehen kann. Während ich tagträumte haben meine Hände sie ohne mich gestrickt. Möglich, dass ich tatsächlich eine Geschichte stricken kann.

ZERBRECHLICHER INHALT

Ich hab ja gestern von einem blauen Wal geträumt, wie platziere ich ihn jetzt in der gestrickten Geschichte? Wo kam der blaue Wal her? Ich habe schon mal einen gesehen, ich werde später darüber nachdenken. Jetzt muss ich stricken. Der blaue Wal taucht neben dem Boot auf und ab. Ich glaube, er passt auf das Boot auf. Noch weiß ich nicht, mit welchen Ziel das Boot aus Binsen unterwegs ist, kenne seinen Inhalt nicht.
Ha, ich werde mich mit dem blauen Wal verbinden. Dann kann ich auf seinem Rücken sitzen und ins Boot schauen, wenn er hoch springt. Da ich selbst die Geschichte erzähle, und genug blaues Garn habe, ist alles möglich. Ich springe also ohne lange zu überlegen mitten in den Ozean hinein, es ist ganz schön kalt und stürmisch, aber ich bin eine gute Schwimmerin und werde gleich vom Wal getragen. Woher ich das weiß, weil ich die Geschichte erfinde und meine Geschichten meist ein positives Ende haben. Wobei man sich mitunter darüber streiten kann, ob nun eine Ende wirklich positiv ist oder nicht.
Da taucht er auch schon auf, es ist ein kleiner Wal, aber groß genug um mich zu tragen. Ich blicke ihm in die Augen und flehe ihn an. Er versteht auch ohne Worte was ich möchte. Er schwimmt nah an mich heran und reicht mir seine Rückenflosse. Ich ziehe mich hoch auf seinen Rücken. Er springt und ich sehe. Im Boot liegt ein Baby. Das kann ich nicht alleine reisen lassen. Vom Rücken des Wales, lasse ich mich in das Boot gleiten. Das Baby ist winzig und schläft. Ich werde ihm zu schauen, wie es aufwacht. Ich lächle den Wal an. Er wird uns den Weg weisen, damit wir schnell in einem sicheren Hafen landen können.
Plötzlich erwache ich, bin beim Tagträumen wohl eingenickt. Jetzt habe ich Hunger. Zum Glück habe ich gestern vorgekocht. Mir ist von meinem Ausflug in den Ozean ganz schön kalt. Eine dicke Suppe und starker schwarzer Tee mit viel Kandis werden mich aufwärmen.
Da war doch noch was. Aber was, ach ja der Wal, ich habe schon mal einen gesehen. Das war auf einer Kreuzfahrt im Norden. Ich muss mal die Fotos durchsehen, denn ich habe ihn fotografiert, wenn ich mich recht erinnere.

Zum Barbaratag, eine kleine Geschichte

Heute werde ich Apfelbaumzweige in die Vase stellen, damit sie Weihnachten blühen. Und ich habe euch etwas mitgebracht:

Zwischen die Blumentöpfe auf der Fensterbank hatte jemand, vielleicht die kleine Lisa, eine gelbe Aprikose versteckt. Zwischen Gliederkaktus, Geldbaum und Usambaraveilchen hätte die Frucht ein verträumtes Leben führen können. Wäre da nicht die Sache mit den Jahreszeiten gewesen. Schon ziemlich verdorrt und runzelig, aber keineswegs faul – eher von süßer konzentrierter Essenz – fror sie nun erbärmlich. Es war kalt geworden und durch die dicke Steinplatte drang die Wärme nicht nach oben.
Leider hatte die Aprikose weder Beine noch Arme, mit denen sie sich aus ihrem kühlen Gemach hätte befreien können.
Inständig betete sie zu einem ihr unbekannten Gott um die Gnade, gefunden und gegessen zu werden.
Aber es kam viel besser, schließlich werden Gebete durchaus auch manchmal erhört.
An einem späten Novembermorgen nahm Käthe, Lisas Großmutter, alle Pflanzen von der Fensterbank, um die Scheiben zu putzen. Schließlich war morgen der erste Advent, und die Glasflächen verlangten nach glänzendem Sternenschmuck.
Käthe entdeckte also die vertrocknete Frucht und steckte sie, denn essbar erschien sie ihr nicht mehr, in die Blumenerde vom Geldbaumtopf.

Gemütlich streckte die Aprikose sich nun in der warmen Erde aus. Sie gähnte, und fiel so gleich in den schönsten Blütentraum.

Aurora, die auf dem Seil tanzt 13

17.4.

Guten Morgen lieber Seebär,

ich hoffe, du hast so gut geschlafen wie ich. Vielleicht warst du gar schon auf dem Wasser. Apropos Wasser. Gestern schrieb ich dir: „Ist nicht das Wasser die Weltenseele, über die wir alle miteinander verbunden sind?“
Vielleicht fragst du dich, wie ich auf diesen Gedanken gekommen bin . Nun ich will es dir erklären, denn ich träumte von….:

„Es war einmal ein Bauernmädchen. Das lebte in der Nähe eines munteren Baches, zwischen Feldern und Wiesen bei den Eltern, mitten in einem wunderschönen Garten. Gerade war Frühling, und auf der Obstwiese blühten die Bäume. Das Mädchen, nennen wir es Trine, saß gern unter den Bäumen im Garten und sah ihnen beim Wachsen zu. Trine war gerade zum Frühlingsbeginn dreizehn Jahre alt geworden. Sie war schon vertraut mit allen Pflanzen, den Gänsen, die sie jeden Tag zu hüten hatte, aber auch mit dem Wasser. Jeden Tag besuchte Trine – wenn alle Arbeiten erledigt waren- zuerst den Garten und schlüpfte anschließend durch die kleine blaue Heckenpforte zum Lieblingsplatz am Fluss. Dort stand zwischen zwei alten Weiden eine verwitterte Holzbank. Darauf ließ es sich wunderbar träumen. Manchmal nahm Trine ein Buch mit, oft saß sie aber einfach dort und schaute ins Wasser. Es war zu jener Zeit, als man tagsüber noch ohne große Angst überall hingehen konnte. Nur im Dämmerlicht musste man achtsam sein. Deshalb erwarteten Vater und Mutter, dass sie vor dem beginnenden Zwielicht wieder zu Hause war. Manchmal vergaß Trine die Zeit auf der Bank. Sie war so vertieft in das Wasser, dass sie fühlte, wie sie selbst zum Bach wurde: sie war in den kleinen Strudeln und in den Lichtreflexen oder ritt erhitzt auf den Wellen, als seien es wilde Pferde, die mit ihr durch die kirgisische Steppe galoppierten. Oder sie schwamm mit den Wassernixen und Heckenzwergen im seichten Wasser jenseits der Brücke.
Der Bach mit allem was dazu gehört, war auch in ihr. Sie spürte sein Fließen im Blut. Ja sie konnte es vor ihrem inneren Auge sehen, wie der Bach durch die verzweigten Blutbahnen bis in Finger-und Fußspitzen schwamm. Herrlich, wie das kribbelte. So mussten sich die Bäume spüren, wenn die Wurzeln in der Erde unaufhaltsam nach Wasser suchten, und es durch den Stamm bis in die feinste Verästelungen der Baumkronen transportierten. Sie fragte sich, ob Bäume kitzelig sind, und musste über diesen Gedanken lauthals lachen, ja sie prustete und kicherte, dass sie fast von der Bank gepurzelt wäre.
Das Wasser sammelte sich unter der Erde, wurde Rinnsal, entsprang in einen Bach, wurde zum Strom und ergoss sich im Meer, verdunstete und sammelte sich in Regenwolken, die jetzt gerade über dem Rübenacker regnete. All das wusste das Mädchen. Schließlich war sie ein Naturkind und für ihr Alter sehr weise, und jetzt hatte sie die Zeit vergessen – es war schon fast dunkel – Mond und Sterne spiegelten sich im Wasser, und sie begann sich zu fürchten.
Zum Glück kam gerade Wolfi schwanzwedelnd durch die Hecke gelaufen um sie abzuholen. Die Eltern hatten ihn rechtzeitig geschickt.“

Und ich? Ich habe dir jetzt den Beginn einer langen Geschichte erzählt, obwohl ich etwas ganz anderes vor hatte. Was alles in der kurzen Zeit geschehen ist, seit ich reise – Wahnsinn – wollte dir doch noch von Jule erzählen. Ich wette, du bist jetzt neugierig geworden. Schaun wir mal, wies morgen weiter geht.

Luftige Apfelblütengrüße schickt Aurora im grünen Trikot, die gleich wieder tanzen wird.

SPURENSUCHE, CLAIRE SUCHT MARIE 8

Claire schreckt hoch. Schweißperlen stehen auf Stirn und der Nacken wird nass. Das Herz klopft so laut, dass sie unwillkürlich an ihre Brust fasst, als wolle sie verhindern, dass es seine Höhle verläßt. Sie zittert und ihr ist kalt. Was war nur gewesen? Sie muss sich beruhigen.
„Komm, Claire, beruhige dich“ , flüstert sie zu sich selbst, „du bist in Maries Wohnung, die Türen sind abgeschlossen. Du bist sicher!“
Regen trommelt gegen das Fenster. Claire zieht die Bettdecke bis zum Kinn hoch, traut sich aber nicht, die Augen zu schließen. Sie konzentriert  sich auf das gleichmäßige Geräusch des Regens und auf den eigenen Atem, der nach und nach ruhiger wird. 

„Es war nur ein Traum, nicht mehr.“ aber was wollte dieser Traum ihr sagen? Welche Botschaft enthielt er?
Claire bedient  den Lichtschalter. Es wird hell. Sie setzt sich auf, zieht  die Knie an den Bauch, umschlingt sie mit den Armen und beginnt zu weinen. Sie fühlt sich so allein, verlassen von allen, einsam. Warum nur, war Marie nicht da? Lear kam ihr in den Sinn. Lange hat sie nicht an den flüchtigen Augenblick dieser Begegnung gedacht.