Alltag ist nicht für alle gleich

Der Alltag ist nicht schön. In der Wohnung herrscht Unordnung. Die Tischplatte klebt und aus der angebotenen Tasse möchte ich nicht trinken. Abgestandener Rauch hängt in den Räumen. Zwischen Abwasch , stinkendem Putzlappen und der Telefonnummer vom Notdienst steht ein übervoller Aschenbecher. Eben hat die Frau alle Zigarettenkippen auseinandergenommen und darauf hin untersucht, ob noch ein Rest Tabak zu finden ist. Bald hat sie eine ausreichende Menge zusammengeklaubt. Es reicht für eine dünne Selbstgedrehte.
Der Kühlschrank bollert, denn er ist defekt, und auf dem Boden vor dem ausrangiertem Sofa liegt der „Verrückte“, wie sie ihn nennt. Sie hat ihn auf der Straße aufgesammelt. Sein dürftiges Lager erinnert an die Schlafstätten vom Menschen, die unter der Brücke schlafen. Dafür, dass sie ihm einen Platz in der beengten Wohnung bietet, beschützt er sie vor unliebsamen Herrenbesuchen. Sie kann nicht „NEIN“sagen. Das konnte sie noch nie. Nur einmal, da hat sie den EX aus dem Haus gejagt. Der „Verrückte“ kann „NEIN“ sagen, obwohl er die meiste Zeit schläft, wenn er nicht gerade die Nacht zum Tage macht und die ganze Nachbarschaft mit seinen ausufernden Dekorationsversuchen an Müllcontainern, Hauswänden, Kellerräumen und Hinterhofmauern in Atem hält.
Inzwischen weiß sie, wann es Zeit ist, ihn in die Klinik zu schaffen.
Wer ist Opfer, wer Held, wer Meister seines Lebens?
Die Frau liebt ihre Kinder und sie liebt auf ihre Weise den „Verrückten“. Ansonsten hangelt sie sich durch das Leben wie eine Artistin auf dem Hochseil. Die Kinder und Tiere – Hund, Katzen, Kaninchen – hangeln mit.
Gern würde sie arbeiten. Freiberuflich!
Sie ist die gute Seele, die an melancholischen Tagen unter den Obdachlosen sitzt, Gitarre spielt und aufmüpfige Songs singt. Alkohol trinkt sie nie. Sie baut im Sommer am Fluss ein Zelt auf und erzählt den Kindern Geschichten, bis ihnen Hören und Sehen vergeht. Erst vor ein paar Monaten hat sie am Rande der Großstadt eine Laube für Wochenenden und Ferien gemietet.
Auf dem Balkon mit Blick auf einen verrotteten Hinterhof künstlert sie hübsche, ungewöhnliche Dinge und Schmuck. Die Frau ist Autodidaktin. Alles hat sie sich selbst beigebracht, selbst das Lesen. Jetzt liest sie gewichtige Bücher, die ganz oben im durchgebogenen Regal stehen und erfindet neue Songs.
Gern würde sie zum fahrenden Volk gehören und im Gypsie-Lookmit einem Zirkuswagen durch die Lande zu fahren, um Markt zu halten in den Orten am Weg,
„Wenn die Kinder groß sind…dann hält mich nichts mehr.“ sagt sie und ihre Stimme klingt entschieden.

AURORA, DIE AUF DEM SEIL TANZT 18

23.6

Liebster Traumtänzer,

ich bin auf dem Weg zu deiner Insel. Ja, ja, es ist so weit, das Jahr wendet sich. Heute sah ich Feuer brennen. Wie wunderbar, sein Stoffhaus unter dem Sternenzelt aufzubauen und drüben auf der anderen Seite des Flusses die Funken stieben zu sehen. Eine turbulente und angestrengte Zeit liegt hinter mir, habe fast jeden Tag eine Vorstellung auf diversen Marktplätzen gegeben. Stell dir vor, gestern sprach mich ein Mann an, wollte wissen, ob ich Interesse daran hätte, als Seiltänzerin in einem Film mitzuwirken. Wir tauschten die Adressen aus und verabredeten uns zum Gespräch über den Film im September. Danach werde ich Jule in Wien besuchen. Das Wetter in den letzten Tagen hat mir zugesetzt. Für diesen Sommer habe ich mein Geld redlich verdient. Ich sitze vor dem Zelt und lausche auf die Geräusche: die Kinder sind still jetzt, schlafen nach dem aufregendem Ferientag, aber im Zelt gegenüber spielen zwei Gitarristen spanische Musik, und vom anderen Ufer erreichen Trommelklänge mein Ohr. Ich bin gar nicht müde. Es gelingt mir nicht, einfach den Abend mit seiner Schönheit zu genießen. Meine Gedanken sind wie Zugvögel, sie kommen immer wieder zurück. Ich vermisse ein „Du“ eins, dem man sein Herz ausschütten kann; eins, bei dem die „Zugvögel“ zwischenlanden können, bevor sie in den Süden ziehen; eins was einfach da ist. Es wäre so wunderbar die innersten Gedanken mit jemandem zu teilen. Du könntest dieser Jemand sein, aber real gibt es dich ja nicht. Obwohl immer unter den Menschen, bin ich allein. Die Leute verstehen mich nicht. Oder verstehe ich die Leute nicht? Ich weiß nicht, bin zuviel mit mir allein.

Bald sind die schwarzen Kirschen reif. Das Meer ist nicht mehr weit. Ich lege den Brief in eine Rotweinflasche und werfe sie in den Fluss. Vielleicht erreicht er dich. Ich vermisse die weiße Brieftaube.

Aurora, mit den Tanzbeinen