Liebe Shinaja,
heute kam das Päckchen mit dem Orakel-Deck bei mir an. Eine nette Postbotin legte es mir so freundlich in die Hände, als spüre sie, dass etwas Besonderes im Päckchen verborgen liegt, etwas, das man vorsichtig und mit Zartgefühl behandeln sollte. Ich hab mir Zeit gelassen mit dem Öffnen und die Spannung noch etwas verlängert, bis ich Zeit und Ruhe hatte, wollte es doch nicht öffnen zwischen Tür und Angel. Dann war es soweit. Das Deck zeigte sich mir. Jede Karte eine Offenbarung, die mein Herz hüpfen lässt und die Seele streichelt. Wer diese kleinen Kunstwerke geschaffen hat, der muss ein weites, weises Herz besitzen. Liebe Grüße von Angie, dem Findevogel
Herz
12.10.20
Gestern weinten die Wolken den Himmel leer
Und wuschen mein Herz
dass so schwer zwischen gestern und morgen hing.
Im Trüben fischen beschwert
Doch wenn die Sonne blinzelt und die Herbstfarben leuchten
wenn die Luft klar und kühl an Quellen denken lässt
dann lächelt das Herz, und Gehen wird leichter
Damals, als ich es zum ersten Mal sah…
Ich, Marie, erinnere mich. Genau auf diesen Polstern hier im roten Salon saß ich vor langer Zeit mit dir. Es war im Herbst. Auf dem niedrigen Tisch zu meinen Füßen stand eine Schale mit duftenden Äpfel, und am Fenster brannte ein siebenarmiger Leuchter mit haselbraunen Kerzen. Es duftete nach Bienenwachs und Orangenschale. Ich hauchte einen Sonnenkuss in dein ergrautes Haar. Zeiten kommen, Zeiten gehen! Ich bin nicht mehr die, an die du damals dein Herz verloren hast. Einst, mein Liebster, war in deinen Augen das lichte Meer. Ich fiel hinein und vergaß die Zeit in dieser graugrünen Unendlichkeit. Dort lag ich auf dem Rücken und ließ mich tragen. Kein Schrecken, weder Angst noch Sorgen, kein Schmerz warteten am Horizont. An jenem Tag, als ich einen Sonnenkuss in dein Haar hauchte, waren deine Augen ein stürmisches Meer. Bedrohliche Schatten wuchsen am Horizont und die Wellen peitschten hoch.
Pass auf, dass du nicht zerschellst mit deinem Boot im Lebensmeer, flüsterte ich gleich einem zärtlichen Wind.
Du bist gegangen ohne ein Wort, und ich lief in den Garten und vertraute Frau Hulda, dem Holunderbusch, meine Tränen an. Es ist lange her. Wo steh ich jetzt?
Aurora, die auf dem Seil tanzt 11
7.3.
Lieber Freund,
meine Seele weint und das Herz tut weh. Manchmal lache ich trotzdem, denn man kann nicht immer traurig sein und vor Wehmut ganz schwach. Und dann schaue ich zum Fenster hinaus und sehe, dass der Apfelbaum treibt und die Osterglocken mir ihr freundliches Gelb schicken. Ich sehe die Veilchen unter den Heckensträuchern und viele bunte Krokusse. Ich denke an Ostern und schmücke mein Haus mit Blumen. Dann werde ich ganz leicht, öffne weit das Fenster und lasse meinen Bruder den Wind hinein. Ich mache mir Musik, lausche verschwimmenden Klängen und tanze selbstvergessen bis ich erschöpft bin.
Und dann höre ich die Amsel singen, so süß, dass mir das Herz schwer und leicht zugleich wird, und die Tränen fließen. Manchmal weiß ich nicht, ob vor Glück oder vor Kummer.
Verstehst du mich? Ich sehne mich nach etwas, dass ich nicht bekommen werde, und ich schaffe es nicht, mit mir ins Reine zu kommen. Manchmal hasse ich mich dafür, schimpfe mit mir, aber mein Herz lässt sich nicht betrügen. Es lässt sich nichts ausreden und es vergisst nicht. Verstehst du mich? Ich verstehe mich nicht: es ist Frühling, die Luft mild und die Tage sind schon länger.
Und ich? Ich bin ein trauernder Kloß, werde älter, meine Jugend verschwindet. Ich frage mich, wie lange noch das Seil mich trägt. Ich muss raus aus diesem geschlossenem Kreis, noch einmal etwas neues wagen. Lieber würde ich mit einem Gefährten gehen, aber da ist niemand.
Kennst du diese verzehrende Sehnsucht, nach etwas, von dem du noch nicht einmal weißt, was es ist? Du gibst ihm tausend und einen Namen, und keiner passt wirklich. Alles viel zu ungenau. Niemals schafft die Sprache es, auszudrücken, was genau ein Mensch empfindet.
Ich rolle als Trauerkloß übers Seil – immerhin muntert mich diese Vorstellung auf – das hat was, deine Aurora

AURORA, die auf dem Seil tanzt 7
10.2.
Hallo liebster Federfreund,
der Nachmittag war schön. Er brachte Sonnenschein und im Licht sahen die verregneten Straßen silbern aus. Ich hängte mein Seil auf und wagte mich hinauf. Was für ein Hochgefühl, wieder oben zu stehen und gekonnt mit der Balancierstange zu jonglieren, aber dann – wieder unten – rutschte die Stimmung in den Keller. Ich kann dir nicht sagen, wodurch es ausgelöst wurde.
Ich bin traurig und dieser Schmerz brandet in mir wie Ebbe und Flut, immer neu, unvorhersehbar, nie gleich. Glaubst du, dass man sich in einem Menschen verlieren kann? So, dass man sich nie wiederfindet? Selbst wenn man glaubt, man hat sich wiedergefunden – und schon jubiliert das Herz – kommt die nächste Welle und schwemmt einen fort.
Ich hatte mich doch längst freigeschwommen. Ich verstehe mich nicht und zürne mir.
Warum bin ich oben auf dem Seil viel sicherer, als unten auf dem Boden. Dort brauche ich ein doppeltes Netz, um den Stolperfallen zu entgehen.
Wirf mir das Netz herrüber, und zieh mich auf deine Insel. Ich möchte ganz oben im Leuchtturm neben dir sein, über das Meer schauen und deine Nähe spüren.
Gute Nacht sagt für heute Aurora
SommerNachtsTraum
des nachts geträumt im sommer
von einem blauen tier
das sanft und zärtlich, schmiegsam ist
und düfte liebt, die balsam sind
für herzen, die gebrochen
und seelen, die verdursten
ich hol es her und mach es groß
– ES LEBT –
und stell es dir zur seite
ICH WILL
Ich will meine eigenen Wege gehen
nicht von deinen Wahrheiten überflutet werden
will frei sei, mich frei schwimmen
selbst entscheiden
ob meine Kraft reicht, gegen den Strom zu schwimmen.
will unvoreingenommen erleben
mich nicht von vorgefertigten Meinungen leiten lassen
spüren, empfinden
Nicht fremder Worte sollen mir Richtschnur sein
ich will sie selbst ziehen
nach meinem eigenem Maß
aus meiner Mitte heraus
mit klarem Geist und offenem Herzen
auch dann, wenn ich Fehler begehe
es sind meine
ich verantworte sie
MOMENTE
In einer fremden Küche stehen
aus dem Fenster schauen
und auf Bahngleise sehen
Kommen und Gehen
Verschluckte Geräusche
Hinterhöfe mit städtischem Wildwuchs
Dabei BLUES hören und BLUES fühlen
BLAU denken
hineinfallen, mitschwingen
aus der Zeit fallen
gleichgültig ob es regnet oder schneit
egal ob die Sonne scheint oder nicht
Fühlen und Spüren
das Herz lebt, es schlägt laut und wild
Musik, Raum, Ort und Zeit, DU, ICH
alles EINS
Behutsamkeit
Behutsamkeit,
eine klitzekleine Behutsamkeit, die wünsch ich mir.
Behutsamkeit ist liebzart zu meinem Herz.
Ich nehme es mit in mein Herz.
Denn ich möchte es auch sein,
liebzart und freudigfroh.
ES WAR ANFANG MÄRZ
(Nachklang zu „Kein Blues am Montag“)
Schneeduft liegt in der Luft
feine Flocken hier und da
schweben über Asphalt
winzige Elfen, die sich in Luft auflösen
bevor der Blick sie fängt
Und ich erinnere mich an jenen Tag
an dem erste Zeilen in mein Herz fielen
und ein besonderer Duft darin hing
der eine Saite in mir zupfte
deren Klang Resonanz auslöste
und ein nachhaltendes Beben
Schnee hüllte deine Stadt ein
an jenem Tag
die Welt ein weißes Blatt Papier
neu, unschuldig und bereit
für den Anfang einer Geschichte