AURORA, DIE AUF DEM SEIL TANZT 16

3.5

Lieber Leuchtturmwärter,

ich schwebe über das Seil durch den Frühling – alles ist so ungewöhnlich, fast surrealistisch. Manchmal zeichnen sich Male in die Gesichter der Zuschauer, ihre Münder sind weit aufgerissen und verzerrt, und in den Augen lodert Angst. Sie werden fahrig und halten den Atem an. Unter die Wangenknochen malen sich dunkle Schatten. Die Haut scheint in ein sonderbares Licht getaucht. Sie wissen nicht, dass es für mich auf dem Seil sicherer ist, als zu ebener Erde. So bin ich in ihren Augen wohl weder Mensch noch Vogel. Keine blaue Feder findet das Kind. Aber es lacht und wirft mir eine Kusshand zu. Ich verneige mich vor ihm, und es beschenkt mich mit leuchtenden Augen. Ich schlage ein wenig mit den Flügeln, gewinne Wind, und fliege mit den Gedanken, wohin ich will. Gestern war wieder Flut: wohin mit den traurigen Gefühlen, wenn der so vielversprechende Tag mit Tränenfluten beginnt? Einmal mehr stelle ich fest, dass ich nicht überall hinfliegen sollte. Es gibt Erinnerungen und Themen, die mich dem Abgrund nah bringen – gefährlich!
Manchmal aber gehe ich mit Absicht in den Schmerz hinein, wie in einen dunklen Tunnel, gewiss, am Ende wartet Licht. Die Menschen können einander nicht retten, aber sie können sich die Hände reichen, einander liebevoll begegnen und Trost spenden. Gute Wegbegleiter können sie sein, eine lange oder kurze Weile. Denkst du mal an mich, wenn die Sonne im Meer  versinkt und alles rotgülden glänzt? Der Schmerz und die Freude,  Lachen und Weinen. Alles liegt dann ganz nah beieinander. Ich denke oft an dich, frage mich, wie es dir wohl geht auf deiner einsamen Insel.

Aus der Ferne umarmt dich deine Aurora

FEDERLEICHT

Da war es wieder! Dieses Gefühl der Leichtigkeit, das Empfinden, eine Feder zu sein und zu schweben. Da hat sie etwas angeflogen und für diesen Augenblick gelingt es ihr, es fest zu halten und zu genießen. Bilder, Farben, Empfindungen sprudeln empor und perlen wie Sekt in ihren Eingeweiden. Sie  sieht Rosenblätter schweben, erinnert einen zarten Duft, der aus dem Nichts zu  ihr herüber weht, hört Musik, dem ihre Füße wie von selbst folgen.Ganz sicher träumt diese Leichtigkeit schon immer  am Rande ihres Bewusstseins und wartet darauf geweckt zu werden.

Sie denkt an die Zeit, als sie fast noch ein Kind war und dass sie damals oft aus der Reihe getanzt ist. Die Musik nahm sie in Besitz und die Bewegungen waren ihre Fortsetzung, die in ihr selbst verwurzelt war. Diese Harmonie von Musik und Bewegung war innig und ein solcher Genuss, dass es ihr gleichgültig war, wie die anderen sie anschauten. Schiefe Blicke und abwertende Gesten war sie gewohnt.
Diese Gleichgültigkeit kam ihr abhanden, denn es wurde ihr wichtiger, geliebt, akzeptiert zu werden und zugehörig zu sein. So versuchte sie, nicht mehr aus der Reihe zu tanzen. Da ihr dies aber nicht so richtig gelingen wollte, stoppte sie ihre Bewegungen mit der Zeit und nahm die sich einstellende Schwere in Kauf.
Obwohl sie kein Stein des Anstoßes sein wollte, wuchs das Gefühl zu versteinern. Schicht um Schicht legte sich auf ihre ursprünglich daunenleichte Schwerelosigkeit. Beschwernisse, Bleilote, schwer zu lösende Verankerungen kamen hinzu.
Mit wachsender Verantwortung und Vereinnahmung legte sie Gewicht zu. Warum sich fortbewegen, wenn Frau die Dinge auch aussitzen kann.
Es kam der Tag, an dem sie begann, unter ihrer Bewegungslosigkeit zu leiden. Die Angst wuchs, dass sich diese Unbewegtheit langsam und unaufhaltsam auch auf ihre Gedankern, Gefühle und Empfindungen auswirken würde. Immer öfter fragte sie sich:
„Was bewegt und berührt mich noch? Auf was lasse ich mich noch ein? Welchem neuen Weg traue ich noch?“

Und dann diese Empfindung.
Davon will sie mehr Mehr, noch viel mehr.
Sie steht auf, geht zum Radio, dreht die Musik lauter. Ganz von allein und  aus sich selbst heraus, beginnen die Füße zu tanzen, verschmelzen Musik und Bewegung.