Kunst am Ei

Endlich, Antonia hat alles beisammen. Es wird auch Zeit, denn in ein paar Tagen ist Ostern. Sie sitzt an einem Tisch, der mit Zeitungspapier abgedeckt ist. Der Aquarellkasten steht bereit, das Wasserglas und die feinen Pinsel ebenso. In einer Schale liegen ausgeblasene Eier unterschiedlicher Größe. Dieses Jahr konnte sie sogar ein paar Gänseeier  ergattern.  Und neben den braunen liegen auch weiße Eier. Antonia hat sich eine Schürze umgebunden. Auf der Kommode steht die hohe Vase mit den Obstbaumzweigen, die sie vor ein paar Tagen im Garten geschnitten hat, damit daraus der Osterstrauß wird. Einige der Zweige tragen schon kleine grüne Blättchen. Weidenkätzchenzweige stecken auch dazwischen. Sie tragen kleine, flauschige Blüten.  Kurz streicht Antonia über eine dieser Blüten, die nicht umsonst Kätzchen heißen, denn sie  fühlen sich an wie  weiches Katzenfell.

Während ihr Blick auf die Zweige fällt, denkt sie an das Zuhause ihrer Kindheit, an ihre Mutter, die jetzt schon viele Jahre tot ist, an  den Bauernhof, die Tiere,  an das fruchtbare Land, den großen Garten, die Obstwiese und die Walnusshecke, all das ihre Lebensgrundlage, die gemeinsam bewirtschaftet wurde und an ihr Lieblingskätzchen. Auch denkt sie an die Schar ihrer Schwestern und wie sie in ihren jungen Jahren alle zusammen fröhlich in der großen Küche  am Esstisch sitzen und Hühnereier färben. Im Hintergrund dudelt das Radio. In der Küche gab es einen großen Kohleherd, mit dem immer noch gebacken und gekocht wurde, obwohl die Familie inzwischen auch einen modernen Elektroherd mit Backofen besaß.  Der Kohleherd hatte eine Schublade, in der Hefeteig gut und geschützt aufgehen konnte. An diesem Gründonnerstag , an den Antonia gerade denkt, steht kein Hefeteig zum Aufgehen darin, denn gerade dient die Schublade als Wärmekiste für kleine Hühnerküken. Es hatte in jenem Jahr kurz vor Ostern einen heftigen Kälteeinbruch mit frostigen Temperaturen und Schneefall gegeben und die Küken waren gerade  erst geschlüpft. Draußen wären sie erfroren. Also wurden sie ins Haus geholt und aufgepäppelt. Das war ein Piepsen.

Antonia kehrt mit den Gedanken zurück  an den Tisch, der mit Zeitungen bedeckt ist. Sie nimmt ein Ei in die linke Hand. In der anderen Hand hält sie einen feinen Pinsel und beginnt das Ei mit kleinen Aquarellen zu bemalen. Kleine Miniaturen aus der Natur entstehen auf den Eiern. Küken im Gras, kleine Kätzchen, Vogelkinder, Tulpen, Krokusse, Hyazinthen, Vergissmeinnicht, Strauch, Baum,  Blüten und Blatt, Erde.
Antonia liebt diese Arbeit und geht ganz darin auf. Beim Malen vergisst sie die Zeit. Sie freut sich an jedem bemalten Ei und stellt sich vor, wie schön es im  Osterstrauß aussehen wird. Sie malt nicht nur für sich sondern auch für Kinder, Enkelkinder, Verwandte und  Freundinnen.  Als Antonia mit der Arbeit fertig wird, ist es schon nach Mitternacht. Zufrieden und froh spült sie Pinsel, Lappen und Wasserglas.  Jetzt kann es Ostern werden.

Duftveilchen

Duftveilchen

Manchmal ist Ostern schon im März, gerade dann, wenn die ersten grünen Spitzen sich in Hecken und Gebüsch heraus  getraut haben und die Bäume eine grünbraune Aura tragen. Die Zweige beginnen gerade erst zu knospen. Hinter dem Haus ist die Wiese übersäht mit Krokussen, die einen blauvioletten Schleier über das winterfahle Gras legen.  Der Mirabellenbaum trägt einen weißen Spitzenschal aus kleinen Blüten. 
Es ist noch dämmerig, als Antonia den Garten betritt, um ihre Lieblinge zu besuchen. Der Tag ahnt noch nichts von der Hektik, die der ganz normale Alltag mit sich bringen wird. Noch sind ein paar Atemzüge Zeit, um wach zu werden und dem Wachsen zuzusehen. Antonia genießt diese Augenblicke des Tages, die sie ganz für sich alleine hat und in denen sie sich mit ihrer grünen Kraftquelle verbinden kann. Ob wohl die Veilchen schon blühen, fragt sie sich, und eilt zurück ins Haus, um im Vorgarten nachzuschauen. Sie kennt den geheimen und versteckten Platz, an dem sich die Veilchen  klein und verschämt zeigen. Leicht sind sie zu übersehen. Und tatsächlich, sie sind erwacht und haben sich aus der Erde heraus getraut.
An diesem Morgen steht auf dem Frühstückstisch eine kleine Kristallvase im Silbermantel. Behutsam hat Antonia  kleine zierliche Veilchen gepflückt und hinein gestellt. Das Kind mag gar nicht frühstücken. Es hat nur die Veilchen im Blick und kann nicht genug bekommen von dem feinen Duft, den sie verströmen. Ein kleines Wunder, das verspricht: es wird grün, licht und wärmer. Bald ist Ostern und der Sommer nicht mehr weit. Dieser Tag ist ein Festtag und der eigentliche Frühlingsbeginn.
Auch später als das Kind längst erwachsen ist, macht sein Herz jedes Mal einen Freuden- Hüpfer, wenn es irgendwo im Gras die kleinen Veilchen entdeckt.

Zettel 1

Ich neige dazu, mir Dinge auf Zettel zu schreiben, sie zu sammeln und sie zu vergessen, bis ich den Stapel mal wieder sortiere. Was sich so findet: Zettel mit Stichworten, Telefonnummern, Buchtiteln, Sprüchen, Zitaten u.s.w.

Eben fand ich “ …a little bird told me…“

Ja, was erzählt er mir, der kleine Vogel:
“ Raus mit dir aus den verschlafenen Federn, raus, raus, denn du weißt ja, der frühe Vogel fängt den Wurm.“

Ich werde ihm noch ein wenig zuhören.
Hat er dir heute auch schon etwas erzählt?

Das Kind ist noch da

Olga ist traurig. Der Tag war beschwerlich. Einer dieser grauen Tage, die in Nässe versinken und deren Feuchtigkeit einen bis auf die Knochen frieren lässt. Nichts Erfrischendes hat der Regen, grünen Grasgeruch trägt er heute nicht mit sich. Wütend gießt er seine Massen über Stadt und Land.
Heute ist Olga nicht zu ihrem täglichen Spaziergang durch die Stadt aufgebrochen. Bei diesem feuchten Wetter quält sie die Arthrose im Knie. Jeder Schritt schmerzt und erinnert sie daran, wie alt sie schon ist. Das Telefon hat nicht geklingelt und auch im Briefkarten fand sich weder Brief noch Kartengruß. Auf den Straßen vor dem Haus ist nichts los.
Es tröstet Olga, dass draußen die Osterglocken blühen und mit ihrem Gelb wenigstens ein wenig gute Laune verbreiten und daran erinnern, dass Hoffnung auf Frühling besteht.
Während der Regen zornig auf das Dach trommelt und die Tauben das Gurren eingestellt haben und sich ducken,  kocht Olga Tee. Etwas Wärmendes muss her. Und, fällt ihr ein, da muss im Küchenbuffet auch noch sahnige Milchschokolade sein.  Allein der Gedanke daran, wie die Schokolade auf der Zunge zerschmelzen wird, hebt Olgas Laune. Gleich wird ihr etwas wärmer. Als der Tee fertig ist und den Raum mit appetitlichen Apfel-Zimt-Duft füllt, geht sie zum Schrank und sucht die Schokolade. Dabei fällt ihr Blick auf Großvaters  alte Zigarrenkiste. Die Frau nimmt Zigarrenkiste und Schokolade mit an ihren Lieblingsplatz. Neben dem gemütlichen Ohrensessel steht ein kleiner runder Tisch, auf dem schon der Tee wartet. Olga schließt die Augen, nippt am heißen Tee,  bricht ein Stück Schokolade vom Riegel und steckt ihn in den Mund. Wie gut der schmeckt, köstlich. Danach öffnet sie den Deckel der Zigarrenkiste. Alte Fotos liegen darin. Kleine Schwarz-Weißfotos, vergilbt und mit Zackenrand. Ein Foto schaut sie sich genauer an.
Da ist das Kind, dass sie vor langer Zeit einmal war. Es spielt versunken und ganz konzentriert auf das eigene Tun. Nichts anderes ist wichtig. Die Zeit hat noch  keine Bedeutung für das Kind. Es hockt auf dem Fußboden . Malstifte liegen da und viel Papier, sehr viel Papier.
Olga erinnert sich genau an diesen Tag im Frühsommer. Nebenan in der Küche klappert Geschirr. Die Mutter kocht Suppe. Draußen ist es noch hell. Winzige Staubkörner wehen als Lichtpunkte durch den Raum. Es duftet nach gebratenen Zwiebel, Gemüse und Hühnchen. Von nebenan perlt Musik herüber. Frau Hamacher spielt Klavier, wie an jedem Nachmittag.

Das Kind malt ein Haus und  einen Baum. Darin sitzt ein Vogel und pickt an den grünen Äpfeln. Es malt eine  lachende Sonne.
Das Kind nimmt ein neues Blatt, malt einen Acker und Ackerfurchen. In die Mitte  malt es eine große Pfütze. Der kleine Bello von gegenüber mit seinen weißen Locken rennt über das Feld, auf die Pfütze zu  und springt hinein. Es spritzt.
Die kleine Olga rennt zum geöffneten Fenster und klettert hinaus. Sie läuft durch den Garten und an den Obstbäumen vorbei zum Feld. Vielleicht ist die Pfütze noch da, und vielleicht badet Bello gerade wieder darin.
Da ruft die Mutter: „Olga, kommst du? Wir wollen essen.“ „Schade, denkt Olga, warum nur ist es schon wieder so spät?“

Die große Olga lächelt. Sie hat Freude an dem kleinen Ich, das sie mal war und das immer noch in ihr steckt.
Lange hat sie nicht mehr gemalt, aber Buntstifte hat sie noch und Zeichenpapier. Nachdem sie alles zusammen gesucht hat, legt sie los.
Die Zeit hat plötzlich keine Bedeutung mehr.  Auch der Regen des grauen Tages wird unwichtig. Über den Rand des Papiers hinüber reicht sie der kleine Olga die Hand. Klein ist die Hand und warm.

Interview mit einer Katze

„Katze, du lebst im Wurzelwerk von Adam Winterbill, der alten Eiche. Wie bist du dorthin gekommen?“

„Das war Zufall und ist schon eine eigene Geschichte. Als kleines Kätzchen wurde ich im Wald ausgesetzt. Der Wurf war zu groß. Wir konnten nicht alle bei unserer Mutter bleiben.“

„Wer hat dich ausgesetzt?“

„Es war Moses, der jüngste Sohn des Bauern, auf dessen Hof ich geboren bin. Eigentlich sollte er mich ertränken. Da er ein weiches Herz hat, brachte er mich stattdessen hierher.“

„Hat er dich ganz allein in dieser Lichtung ausgesetzt?

„Ja, ich glaube, es war sein Lieblingsplatz im Wald. Später sah ich ihn noch öfter hier. Er hat sich ins Moos gesetzt und seinen Rücken an die alte Eiche gelehnt.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Ich komme auch oft hierher. Die Lichtung ist ein friedlicher Ort, an dem ich meine Sorgen vergessen kann. Er ist verwunschen und magisch. Gestern dachte ich plötzlich an das Kind, dass ich mal war. Damals glaubte ich fest daran, dass am Rande des Dorfes die Welt aufhört, gerade da, wo Fuchs und Hase einander Gute Nacht sagen.“

„Adam hat mich adoptiert. Unter seinem Schutz war ich gut behütet und fand genügend Nahrung, um satt zu werden und zu wachsen. Wir haben uns gut verstanden. Manchmal lege ich mich ins Moos vor seinen Stamm und miaue ihm ein Lied. Ich glaube, er mag das, denn er bewegt dann sein mächtiges Haupt hin und her und summt dazu. Ich fange die Mäuse weg, die an seinem Wurzelwerk nagen“

Du hast im Wurzelwerk eine richtige Wohnung mit Zimmern, Küche und Gästesalon. Haben sich viele Gäste hierher verirrt?“

„Im Laufe der Zeit sind hier einige Gäste gestrandet. Alle habe Ruhe gesucht. Sie waren oft erschöpft und traurig. Manchmal sind sie eine Weile geblieben. Dann hat sich am Abend die blaue Tür geöffnet und sie sind hinein geschlittert ins Wurzelwerk. Ich habe sie bewirtet, getröstet und ein bisschen verwöhnt. Und sie haben ihre Geschichten dagelassen.“

„Wer waren diese Menschen und was hatten sie gemeinsam?“

„Adam Winterbill zieht bestimmte Menschen zu sich her. Meist sind es solche, die sich verwaist fühlen und nicht mehr so richtig wissen, wo sie hingehören. Es gibt viele verschiedene Gründe, warum Menschen sich so fühlen. Genauso verschieden und besonders sind auch ihre Geschichten. Alle sind sie Suchende.“

„Wonach suchen sie?“

„Nach ihrem roten Faden.“

„Du meinst den Ariadnefaden, der verhindert, dass sie in die Irre gehen, wenn im Leben alles durcheinandergerät?“

„Ja, wer hierher kommt such nach einem Leitstern, der  den Weg weist.  Immer wenn sie sich verabschieden, haben sie zumindest eine Idee, wie es weiter gehen kann. Und da ist wieder Hoffnung,“

„So wie MARIE, die einem Stern folgte, der sie angezogen hat.“

„Ein Stern hat Marie nicht ohne Grund hierhergeführt. Adam ist erfahren und weise. Er spürt intuitiv was den Wesen fehlt, die hierhergekommen. Unzählige Geschichten sind in seinem Stamm gespeichert. Ein riesiger Schatz, der erzähle werden soll, um nicht verloren zu gehen.“

„Marie war lange bei dir und Adam zu Besuch.“

„Adam hat schnell erkannt, dass Marie eine Geschichtenerzählerin ist. Und weil sie die Baumsprache versteht, kann sie die gespeicherten Geschichten übersetzen und weitererzählen.“

„Marie hat ja selbst eine lange Geschichte hinter sich gelassen, ist durch viele Gefahren und Abenteuer gegangen, immer allein. Nur der innere Kompass war für sie richtungsweisend.“

„Das stimmt. Sie hat viele Freunde hinter sich gelassen, die sie gesucht und aus der Ferne mental unterstützt haben. Marie war gut vernetzt.“

„Am Ende hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllen können. Ihr Leben hing am seidenen Faden.“

„Es ging nie wirklich darum, eine Aufgabe zu erfüllen, sondern darum, Erfahrungen zu sammeln und unterwegs Dinge zu finden, die für den Augenblick und das weitere Leben hilfreich sein können.“

„Und ich, warum bin ich hier?“

„Du hast MARIE erschaffen und bist ihre Stimme. Du bist der Findevogel und sammelst Geschichten. Deine Geschichten bilden ein zusammenhängendes Netzwerk, wie das Wurzelwerk von Adam, das verwoben ist mit all den anderen Wurzelgeflechten.“

Rum-Pudding

Meine kleine Schwester, die Jüngste von sieben Kindern, hatte viele Freiheiten, war halt ein typisches Nesthäkchen. Meine Eltern waren der andauernden Erziehungsarbeit schon etwas müde geworden und besaßen nicht mehr die Kraft und Energier ihrer jungen Jahre.
Schnell hatte das Nesthäkchen raus, wen sie wie am besten um den Finger wickeln konnte. Darin war sie sehr geschickt. Zunächst wendete sie das innerhalb der Familie mit Erfolg an, später auch bei den Freunden ihrer älteren Schwestern. Oh ja, meine kleine Schwester konnte unglaublich charmant und liebenswürdig sein.
Anfang der 70iger Jahre feierten wir zuhause eine Doppelkommunion. Es war ein sonniger und freundlicher Apriltag. Wie gemacht für eine fröhliche Feier im Garten unter blühenden Bäumen.
Das Nesthäkchen war etwa 5 Jahre alt.
Meine Freundin B. und ich versorgten die Gäste, halfen beim Kochen, beim Tische ab-und aufdecken, beim Kuchenschneiden und Sahneschlagen, beim Aufbau des Buffets, auch das Spülen war unsere Arbeit.
Mama hatte am Tag vorher eine Festtagscremespeise hergestellt: „Rumpudding“
Weil sie keinen anderen Rum zur Hand hatte, benutzte sie hochprozentigen Strohrum (80%).
So ganz ohne besondere Aufsicht, denn die Erwachsenen waren mit Besuch, Gesprächen und Feiern beschäftigt, genoss meine kleine Schwester an diesem Tag viel Freiheit.
Offensichtlich schmeckte ihr die alkoholhaltige Cremespeise besonders gut. Sie muss eine Menge davon gegessen haben. B. und ich, mit anderen Dingen beschäftigt, bemerkten nur, dass die Kleine immer ausgelassener wurde und die Schaukel im Garten all zu heftig in Schwung setzte. Dazu grölte sie laut. Wir alarmierten Mama und Papa, weil das, was das Kind da tat, sah mehr als gefährlich aus. Unser Vater kümmerte sich. Tatsächlich hatte die Kleine an diesem Tag ihren ersten Rausch. Sie wurde gepüngelt, beruhigt und erst einmal ein paar Stunden schlafen gelegt.

Nicht perfekt!

Die kleine Ida sitzt auf der langen Holzbank in der Küche. Tante Mia,  die Idas Patentante ist, sitzt neben dem Kind und versucht, ihm das Flechten beizubringen.  Idas Hände wollen nicht, wie sie sollen, dabei ist sie doch bald ein Schulkind und hat schon gelernt, die Schnürsenkel ihrer Schuhe zuzubinden. Ida versteht einfach nicht, wie aus drei Fäden in der Hand ein schönes Flechtband werden soll. Auch Tante Mia ist verzweifelt. Sie schwitzt und die Wangen haben sich rosa gefärbt.  Am Herd kocht Tante Anni das Mittagessen. Die Kartoffeln sind bald gar, der Blumenkohl schon fertig. Tante Anni macht eine Mehlschwitze und röstet gerade die kleingeschnittenen Zwiebeln an. Ida sieht genau zu. Am liebsten würde sie neben Tante Anni am Herd stehen und die Soße rühren Es riecht gut. Der Magen knurrt. Mama deckt den Tisch. Der Holztisch ist lang. Viele Personen können daran Platz nehmen. Es ist ein großer Haushalt.
Ida lässt sich gerne ablenken, wenn etwas nicht so von der Hand geht. Und sie ist auch traurig, weil ihr manche Dinge einfach nicht gelingen. Am liebsten würde sie das Flechtzeug in die Ecke knallen, aber wütend darf sie nicht werden.  „Mädchen dürfen nicht wütend sein.“ sagt Mama , sagen die Tanten. In den Füßen kribbelt es. Aufstehen möchte Ida und nach draußen laufen in den Hof zu den Hühnern. Aber gleich gibt es Mittagessen.
Tante Mia gibt auf: „Kind, du hast zwei linke Hände und wirst keinen Mann abbekommen.“ In diesem Augenblick ist der Satz Ida egal, erst in vielen Jahren wird sie sich an ihn erinnern. Jetzt ist sie ein Kind und braucht keinen Mann.  Einerseits schämt sie sich und andererseits ist sie froh, dass sie nicht weiterflechten muss.
 In der Pfanne braten jetzt Spiegeleier mit Speck. Ausgelassenen Speck liebt Ida. Das Wasser läuft ihr im Mund zusammen.  Die Mehlschwitze ist fertig. Etwas Muskat und Petersilie noch, dann steht alles auf dem Tisch. Die alte Standuhr schlägt einmal. Es ist 13 Uhr. Oma kommt aus der guten Stube, die Onkel  von draußen. Schweigend waschen sie ihre Hände, bevor sie Platz nehmen. Alle falten die Hände und beten: „Komm Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast“ , sagen „Guten Appetit“

Die Erwachsenen erzählen, während die Kinder auf der Holzbank sitzen und still sein müssen, Ida hat noch zwei jüngere Geschwister. Mama füllt die Kinderteller. Zeit zum Essen. Ida genießt es. 

Schattenkind 1

Das Kind ist glücklich. Es malt. Das war nicht immer so. Als es klein war hat es nicht gern gemalt. Papier war knapp, bunte Stifte eine Seltenheit. Ab und zu gab es ein Malbuch. Langweilig, dieses öde Ausmalen.  Das Kind hat es nicht hinbekommen und  schnell aufgegeben.
Oder war es eigentlich ganz anders? Es war niemand da, der dem Kind Mut gemacht hätte, sich kreativ auszuprobieren. Kinder sollte man sehen und nicht hören. Als richtig galt nur das, was im Alltag zu tun und zu erledigen war. Gerne hätte das Kind kleine Aufgaben übernommen, aber das darf es auch nicht, dafür ist es noch zu klein, wie die Erwachsenen meinen. Das Kind ist eine gute Beobachterin und es kann dem Leben zuhören. Alles nimmt es in sich auf, während es leise im  schützenden Schatten bleibt. Da ist es sicher. Bloß kein Aufsehen erregen! Da sein und doch nicht da sein. Aus dem Schatten heraus treten und etwas einfordern, unmöglich! Das Kind lernt, gut mit sich alleine zu sein.  Wer hat das Kind überhaupt wirklich gesehen?
Später, als das Kind erwachsen geworden ist und gelernt hat,  aus dem Schatten heraus zu treten, um sichtbar zu sein, lernt es diese besondere  Fähigkeit zu schätzen. Sie ist wie ein Zaubermantel mit zwei Seiten. Eine, unter die es bei Bedarf flüchten kann, um nicht gesehen zu werden und die andere, die es sichtbar glänzen und erstrahlen lässt.  „Schaut her, hier bin ich!
Heute nun malt das Kind. Es hat das dicke Notizbuch aufgeschlagen und  mit den Buntstiften losgelegt.  Die innere Mama hat ihm zugelächelt und gesagt: „Mach einfach. Es geht nicht um Perfektion,  nur darum, Spaß und Freude zu haben. „
Für einen kurzen Augenblick zögerte das Kind : „Darf ich mich wirklich freuen und glücklich sein, wenn in der Welt doch gerade soviel Schreckliches passiert?“ Und dann hat es den Kopf ausgeschaltet und losgelegt. 
Und danach ist es aufgestanden und durch den Raum getanzt. Und es hat ganz laut gesungen: „Ich darf spielen.“
Und am Ende des Tages findet das Kind auch noch ein Zitat von  Carl Jung: 

 „You must become your own creator. If you want to create yourself, than do not begin with the best and the highest, but with the worst and the deepest.“