Interview mit einer Katze

„Katze, du lebst im Wurzelwerk von Adam Winterbill, der alten Eiche. Wie bist du dorthin gekommen?“

„Das war Zufall und ist schon eine eigene Geschichte. Als kleines Kätzchen wurde ich im Wald ausgesetzt. Der Wurf war zu groß. Wir konnten nicht alle bei unserer Mutter bleiben.“

„Wer hat dich ausgesetzt?“

„Es war Moses, der jüngste Sohn des Bauern, auf dessen Hof ich geboren bin. Eigentlich sollte er mich ertränken. Da er ein weiches Herz hat, brachte er mich stattdessen hierher.“

„Hat er dich ganz allein in dieser Lichtung ausgesetzt?

„Ja, ich glaube, es war sein Lieblingsplatz im Wald. Später sah ich ihn noch öfter hier. Er hat sich ins Moos gesetzt und seinen Rücken an die alte Eiche gelehnt.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Ich komme auch oft hierher. Die Lichtung ist ein friedlicher Ort, an dem ich meine Sorgen vergessen kann. Er ist verwunschen und magisch. Gestern dachte ich plötzlich an das Kind, dass ich mal war. Damals glaubte ich fest daran, dass am Rande des Dorfes die Welt aufhört, gerade da, wo Fuchs und Hase einander Gute Nacht sagen.“

„Adam hat mich adoptiert. Unter seinem Schutz war ich gut behütet und fand genügend Nahrung, um satt zu werden und zu wachsen. Wir haben uns gut verstanden. Manchmal lege ich mich ins Moos vor seinen Stamm und miaue ihm ein Lied. Ich glaube, er mag das, denn er bewegt dann sein mächtiges Haupt hin und her und summt dazu. Ich fange die Mäuse weg, die an seinem Wurzelwerk nagen“

Du hast im Wurzelwerk eine richtige Wohnung mit Zimmern, Küche und Gästesalon. Haben sich viele Gäste hierher verirrt?“

„Im Laufe der Zeit sind hier einige Gäste gestrandet. Alle habe Ruhe gesucht. Sie waren oft erschöpft und traurig. Manchmal sind sie eine Weile geblieben. Dann hat sich am Abend die blaue Tür geöffnet und sie sind hinein geschlittert ins Wurzelwerk. Ich habe sie bewirtet, getröstet und ein bisschen verwöhnt. Und sie haben ihre Geschichten dagelassen.“

„Wer waren diese Menschen und was hatten sie gemeinsam?“

„Adam Winterbill zieht bestimmte Menschen zu sich her. Meist sind es solche, die sich verwaist fühlen und nicht mehr so richtig wissen, wo sie hingehören. Es gibt viele verschiedene Gründe, warum Menschen sich so fühlen. Genauso verschieden und besonders sind auch ihre Geschichten. Alle sind sie Suchende.“

„Wonach suchen sie?“

„Nach ihrem roten Faden.“

„Du meinst den Ariadnefaden, der verhindert, dass sie in die Irre gehen, wenn im Leben alles durcheinandergerät?“

„Ja, wer hierher kommt such nach einem Leitstern, der  den Weg weist.  Immer wenn sie sich verabschieden, haben sie zumindest eine Idee, wie es weiter gehen kann. Und da ist wieder Hoffnung,“

„So wie MARIE, die einem Stern folgte, der sie angezogen hat.“

„Ein Stern hat Marie nicht ohne Grund hierhergeführt. Adam ist erfahren und weise. Er spürt intuitiv was den Wesen fehlt, die hierhergekommen. Unzählige Geschichten sind in seinem Stamm gespeichert. Ein riesiger Schatz, der erzähle werden soll, um nicht verloren zu gehen.“

„Marie war lange bei dir und Adam zu Besuch.“

„Adam hat schnell erkannt, dass Marie eine Geschichtenerzählerin ist. Und weil sie die Baumsprache versteht, kann sie die gespeicherten Geschichten übersetzen und weitererzählen.“

„Marie hat ja selbst eine lange Geschichte hinter sich gelassen, ist durch viele Gefahren und Abenteuer gegangen, immer allein. Nur der innere Kompass war für sie richtungsweisend.“

„Das stimmt. Sie hat viele Freunde hinter sich gelassen, die sie gesucht und aus der Ferne mental unterstützt haben. Marie war gut vernetzt.“

„Am Ende hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllen können. Ihr Leben hing am seidenen Faden.“

„Es ging nie wirklich darum, eine Aufgabe zu erfüllen, sondern darum, Erfahrungen zu sammeln und unterwegs Dinge zu finden, die für den Augenblick und das weitere Leben hilfreich sein können.“

„Und ich, warum bin ich hier?“

„Du hast MARIE erschaffen und bist ihre Stimme. Du bist der Findevogel und sammelst Geschichten. Deine Geschichten bilden ein zusammenhängendes Netzwerk, wie das Wurzelwerk von Adam, das verwoben ist mit all den anderen Wurzelgeflechten.“

Lieblingssatz 22

Satz 22

„Ich sehe mich in unzähligen Gestalten – Formen, die waren, sind und werden. Mein Herz macht einen Sprung – Narrensprünge!“

(Angie aus Brückenstück „Marie, die Zweite“)

Dieser Augenblick zwischen Schlafen und Wachsein, manchmal noch traumverfangen, dieser besondere Moment lässt sich dehnen. Wie ein Film läuft der Traum einfach weiter und schwingt sich in Narrensprüngen von Ast zu Ast und von Baum zu Baum weiter, bis er verblasst im Tag angekommen ist. Freiwillig hängenbleiben in Zwischenwelten ist für Marie köstlich und ein unvergleichlicher Genuss. Hier entstehen kreative Impulse für den Tag, entscheidet sich welchen Grundton der Tag tragen wird. Alles Vorstellbare darf sein und seine Schatten in den Tag legen. Im Gegensatz zum Nachttraum allerdings, ist Mensch hier selbst der Regisseur. Er entscheidet, wohin es geht und wie lange die Reise dauert.

Drei kleine Schreibprojekte 2

1. Die Suche nach MARIE 2

Eigentlich, so ist mir neulich eingefallen, war MARIE schon viel früher da. Das hat mit meinen beiden Vornamen „Angelika Maria“ zu tun. Mitte der siebziger Jahre liebte ich den Song „ANGIE“ von den Rolling Stones, und ich war bis über beide Ohren verliebt. So nannten mich meine Freunde und Geschwister fortan Angie, weil ich diesen Song immer wieder hören wollte und er auf Engtanz-Feten immer gespielt wurde.
Es gab eine Zeit, in der ich mich intensiv mit meinen zwei Vornamen auseinandersetzte. Dabei wurde aus Maria „Marie“. Angie-Marie klingt in meinen Ohren verspielter, zeitgemäßer und weniger steif. Mit diesem Namen konnte ich mich besser identifizieren, und so nannte ich mich dann zukünftig auch. Es war die Zeit meiner ersten Schreibversuche im öffentlichen Raum. Angie und Marie, Geschwister, waren zwei unterschiedliche, aber gewichtige Stimmen in meinem inneren Team. Sie stritten miteinander, waren oft unterschiedlicher Meinung, versöhnten sich wieder, gingen ein Stück gemeinsam und dann wieder auseinander, probierten unterschiedliche Wege aus. Die Protagonistin, die auftauchte, als es mir gesundheitlich sehr schlecht ging, nannte ich MARIE und das war für mich ein sehr natürlicher Prozess und äußerst passend.
Als ich mir vor vier Jahren ein neues Fahrrad kaufte, genau nach meinen Vorstellungen und ohne mich von irgendjemanden beeinflussen zu lassen, taufte ich es Mia-Marie. Es gibt nämlich noch eine andere Maria in meinem Leben. Sie wurde Mia genannt und war meine Patentante. Sie war die älteste Schwester meiner Mutter. Von ihr bekam ich meinen zweiten Namen. Mia liebte alle ihre 21 Nichten und Neffen und hatte immer viel Verständnis für sie, verurteilte nie, und was wir ihr erzählten, gab sie nicht weiter an unsere Eltern. Wir konnten ihr alles anvertrauen. Sie selbst, Kriegerwitwe und kinderlos, war der gute Geist in unserer großen Familie und eine Ersatzmutter für uns, denn sie war da, wenn Not an Mann oder Frau war und stand ihren vier Schwestern bei großen Festen, Krankheiten, Niederkünften wie selbstverständlich zur Seite.  Ich denke sehr oft an sie.

Drei kleine Schreibprojekte

1. Die Suche nach MARIE

MARIE ist eine der ersten Protagonistinnen, die ich erfunden, gestaltet und 2006 ins Leben geschickt habe. Plötzlich war sie da und nahm Gestalt an. Folgte ich ihr oder folgte sie mir? Ich kann es nicht sagen. Sie kam zum richtigen Zeitpunkt, denn ich setzte mich gerade mit einer schweren medizinischen Diagnose auseinander: Krebs. Die Behandlung machte mich richtig krank, raubte mir Energie und Kraft. Ich erinnere mich an Tage, an denen ich das Gefühl hatte, alle Lebenskraft rinne unaufhörlich aus mir heraus. andere habe ich nur verdöst. Wenn ich aufstehen konnte, habe ich geschrieben. Beim Schreiben vergaß ich Kraftlosigkeit, Schmerzen und Müdigkeit. Ich habe Marie auf eine Reise geschickt ins Ungewisse. Während ich sie schrieb fand sie für uns beide hilfreiche Dinge, Visionen, Metaphern, Lichtgestalten, heilende und erhellende Substanzen, die Elemente, Magie. Diese unterstützten Marie bei den Herausforderungen der gefährlichen Abenteuer ihrer Reise. Gleichzeitig halfen sie mir bei der Bewältigung meiner Krankheit und der darauffolgenden Genesung. So wie MARIE sich neu erfunden hat nach dieser Reise, musste auch ich mich neu erfinden und alles was durch die Krankheit auseinandergebrochen war, Stück für Stück wieder zusammensetzen.
Sie verschwand wie sie gekommen war. Eines Tages fielen mir keine neuen MARIE-Geschichten mehr ein. Natürlich ist sie ein Teil von mir, der nur auf einer anderen Ebene unterwegs ist, so sehe ich das.
Ich möchte sie gerne wieder finden, und suche die versteckte Brücke, Abzweigung, den überwucherten Pfad, das Heckenloch, das auf ihre Ebene führt.
Jede Suche ist immer auch eine Suche nach sich selbst, und so schreibe ich nun jeden Abend vor dem Schlafengehen an diesem Projekt. Ich schreibe auf, was mir in den Sinn kommt und folge dem Motto: „Der Weg ist das Ziel.“ So gelten die letzten Gedanken des Tages MARIE und ich nehme diese mit in meine Träume.

SPURENSUCHE, CLAIRE SUCHT MARIE 8

Claire schreckt hoch. Schweißperlen stehen auf Stirn und der Nacken wird nass. Das Herz klopft so laut, dass sie unwillkürlich an ihre Brust fasst, als wolle sie verhindern, dass es seine Höhle verläßt. Sie zittert und ihr ist kalt. Was war nur gewesen? Sie muss sich beruhigen.
„Komm, Claire, beruhige dich“ , flüstert sie zu sich selbst, „du bist in Maries Wohnung, die Türen sind abgeschlossen. Du bist sicher!“
Regen trommelt gegen das Fenster. Claire zieht die Bettdecke bis zum Kinn hoch, traut sich aber nicht, die Augen zu schließen. Sie konzentriert  sich auf das gleichmäßige Geräusch des Regens und auf den eigenen Atem, der nach und nach ruhiger wird. 

„Es war nur ein Traum, nicht mehr.“ aber was wollte dieser Traum ihr sagen? Welche Botschaft enthielt er?
Claire bedient  den Lichtschalter. Es wird hell. Sie setzt sich auf, zieht  die Knie an den Bauch, umschlingt sie mit den Armen und beginnt zu weinen. Sie fühlt sich so allein, verlassen von allen, einsam. Warum nur, war Marie nicht da? Lear kam ihr in den Sinn. Lange hat sie nicht an den flüchtigen Augenblick dieser Begegnung gedacht.

Spurensuche, Claire sucht Marie…

WER IST CLARISSE?

 

Es ist Nacht! Ein sichelförmiges Boot legt an und eine hohe schlanke Gestalt steigt aus, zieht das Boot an Land, und vertäut es sicher an den Hafenpollern. Auf kräftigen Füßen läuft die Gestalt durch den nassen Sand und hinterlässt ausgeprägte Fußspuren.
In der Dunkelheit ist die Person nicht zu erkennen. Die Gesichtszüge liegen im Schatten einer weiten Kapuze. Offensichtlich hat der Bootsbesitzer es sehr eilig.

Es ist Knut, der Seebär, unterwegs in Sachen Lust. Zu lange war er schon unterwegs und immer der Geschmack nach Saltz auf den Lippen. Die Schifffahrt lohnt sich nicht mehr.
Er ist mit schweren, schnellen Schritten unterwegs. Sein Ziel ist ein kleines Haus in der Altstadt. Schon bald klopft er an eine schwarze Holztür. Das schiefe Haus wirkt verkommen und abgetakelt. Aber Clarisse ist billig und gut. Knut ist ungeduldig. Er kann nicht still stehen, tritt von einem auf das andere Bein. Endlich wird geöffnet.
Die Wände im kleinen Haus sind rot gestrichen. Billige, verrauchte Möbel machen die Einrichtung  aus. Doch Clarisse?
Sie strahlt! Ihre ewige Schönheit blendet und hat schon manch ein kleineres und größeres Drama in der Stadt ausgelöst. Sie ist nicht wie andere Huren, nein, sie bietet sich an, weist Männer aber auch ab, wenn sie ihrer stolzen Nase nicht gefallen.“Clarisse, ein Flair, ein Esprit, ein Tempel der Sehnsüchte.“(sagte mal eine Feinschmeckerin über sie). Es wird gemunkelt, dass Clarisse  auch Frauen nicht abgeneigt ist. Knut jedoch findet Gnade. Er darf sich seine Sehnsüchte erfüllen. Während sein Boot gut vertaut im Hafen dümpelt, legt er das Geld in das Buch neben dem Nachttisch. Es ist eine Bibel. „Clarisse, ein Flair, ein Esprit, ein Tempel der Sehnsüchte.“(Zitat jener Feinschmeckerin)Entfesselt und nackt schaut der Kapitän auf das Buch:
„Wir haben gesündigt, Clarisse.“ flüstert er entsetzt.

„Wir haben gesündigt, Knut?“ Clarisse bricht in ein wieherndes Lachen aus. „Du bist ein verdammter Kindskopf, Knut, kriegst einen Anfall, nur weil die Bibel hier liegt.“
Der Mann schaut sie verdattert an: „Aber schau, wir haben…..!“
„und überhaupt,“ fragt sich die Frau, zieht dabei die Stirn in Falten, “ wer zum Teufel hat das Buch hier hingelegt?“
Der Mann schaut sie verdattert an: „Aber schau, wir haben…..!“ „

Clarisse ist nicht dumm. Hier helfen keine Worte, aber sie weiß die Männer bei der Stange zu halten. Schließlich liegt es in ihrem eigenen Interesse, deren Bedürfnisse zu befriedigen. Schließlich lebt sie von ihnen.

Schlangengleich schmiegt sich ihr seidenglatter Körper an Knut heran. Ja, sie weiß die geheimen Verstecke züngelnd zu erreichen, die Männer alles vergessen lassen, kennt ihre unausgesprochenen Sehnsüchte, weiß, wie sie ihre Beute hypnotisieren muss, um jenen Punkt zu erreichen, an dem „Mann“ das Denken vergisst, nur noch Körper ist und seiner Begierde folgt.

Clarisse war eine strategische Meisterin. Was sie wollte geschah, und schon nach kurzer Zeit vergaß Knut die Gedanken an Sünde und Schuld, und opferte seine Lust auf dem Altar der Begierde. Anschließend fiel er gesättigt fast augenblicklich in Schlaf. Unschuldig wie ein Kind sah er aus. Zufrieden schaute Clarisse auf diesen gefallenen Bären, und freute sich ihrer Macht. Ja, schwer und golden lag ein Schlüssel in ihrer Hand. Ein triumphierendes Lachen perlte in ihrer Kehle.

Im Gegensatz zu Knut fand Clarisse lange keinen Schlaf. Vieles ging ihr durch den Kopf. Und sie hatte Zeit zum Nachdenken, denn Knut bezahlte immer für eine ganze Nacht an ihrer Seite. Kein weiterer Freier stand vor ihrer Türe. Wie wohltuend das war!

Clarisse war nicht herzlos. Gut geerdet folgte sie mit der notwendigen Distanz ihrer beruflichen Profession. Sie musste leben und für das Alter vorsorgen. Dennoch besaß jeder der Männer ihrer Stammkundschaft einen kleinen Platz in ihrem Herzen. Diesen Luxus leistete sie sich.

In dieser Nacht aber dachte sie mit Sorgen an MARIE, ihre beste Freundin. Die war eines Vormittags völlig aufgelöst bei ihr erschienen, hatte sich ausgeheult und war dann mit einem Boot auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Clarisse wusste, dass Marie einer Obsession folgte und ihren Gefährten suchte.

Einmal mehr dachte Clarisse über das Wunder der Liebe nach, und wie diese die Menschen verändert.
Marie, ihre zarte und liebevolle Freundin, die bis heute nicht richtig erwachsen geworden war und die jetzt weit weg war, um nur noch der inneren Stimme zu gehorchte. Wo war Marie? Hatte sie Spuren gefunden, denen sie hoffnungsvoll folgen konnte?
Immerhin hatte Clarisse das Gefühl, dass Marie unter dem Einfluss beschützender Mächte stand.

In der Nacht träumte Clarisse von einer Insel, die von einer weisen Schleiereule bewacht wurde.
Im Schatten eines ausladenden Baumes sah sie die Schemen einer rotgekleideten Person. 

 

(Ausschnitt aus Logbuch Marie 2005)

Spurensuche, Claire sucht Marie 7

Liebe Marie,

 

ich habe das grüne Notizbuch gefunden und tatsächlich, da findet sich Clarisse – smile – sie wohnt ja gar nicht weit von hier. Ein paar Schritte um den Häuserblock und schon stehe ich vor ihrer Tür. Vielleicht hat sie etwas von dir gehört. Warum hast du sie mir nie vorgestellt? Nur einmal sah ich sie von weitem an deiner Seite. Es war in dieser schrecklichen Zeit, als wir den Streit hatten und uns lange nicht ansehen konnten. Damals schmerzte es sehr, dich so ausgelassen mit einer anderen Frau zu sehnen, wo wir doch Schwestern sind und einander wirklich kennen. Und ich war so traurig und allein. es war hart, so als hättest du mich aus deinem Herzen heraus geschmissen. Heute weiß ich, dass es gut so war. Ich hatte mich ja viel zu fest an dich gebunden. Ich weiß, dass Liebe auch ersticken kann.

Interessante Namen findet man im grünen Buch: Leander, in goldenen Buchstaben, verschnörkelt gemalt. Ach ja, in deiner Post liegt ein Brief von ihm.
Ach Marie, wenn ich dich nicht so gerne hätte, ich könnte fast wütend werden über all das, was du mir nicht erzählt hast. Und ich dachte, ich kenne dich auswendig, und dann machst du solche Sachen, gehst einfach, lässt alles liegen und folgst einer spinnerten Idee, und niemand weiß, wo du nun bist.
Hast du einen Augenblick lang an all die Menschen gedacht, die sich inzwischen um dich sorgen, weil kein Lebenszeichen von dir sie erreicht.
Und doch, ich spüre, du lebst.

deine Klette, Claire

NOCH EIN STERN

 

Geh und nimm alles mit, was die Zeit dir schenkt
atme es ein und aus
fahre die Tentakel aus
und trage es weiter in wachsenden Kreisen
Spiralnebel
steige aus dem Wasser , erhebe dich in die Luft
Kreise!

Raum gewinnendes Wechselwesen:
eben noch Fisch mit Kiemen und Flossen
nun auf zwei Beinen über die Erde gleitend
wachsen innere Federn
Du fliegst!
gebietest über Raum und Zeit
nichts entgeht dir
kein Ton, kein Laut
weder Melodie noch Lied
Sterne streifen die Haut, kühl
du fächelst Luft dem Feuer
Du bist ruhig

Sternzeit. Im Vorbeifliegen schaust du Aurora in die Augen.
In die Morgenröte schiebt sich schwarz ein Fels.
Landeplatz, Hafen
Aussicht gewinnst du, bevor du weiter fliegst.

Bist du noch auf dem Weg, MARIE?

 

Marie ist gewandert. Sie folgt einem Stern und fragt nicht nach dem Ziel
Will nichts erreichen, strebt kein Ziel an, lässt sich leiten, angezogen vom Licht.
Sie steigt hinab in die Gärten unter dem Meer.
Wie klar das Antlitz sich im Wasser spiegelt im sanften Glanz des vollen Mondes.
Nichts drängt, Zeit ist, keine Frage verlässt ihre Lippen.
Ruht sie in sich traumversunken, den nächtlichen Spuren folgend?
Langsam lösen sich die Konturen ihrer Gestalt im nächtlichen Dunkel auf.


SIE SPÜRT
die Erde, den Himmel.
Ein Fließen zwischen beiden, durch sie hindurch.
Was die Erde ausatmet, atmet der Himmel ein.
Was der Himmel ausatmet, atmet die Erde ein.
Bäume seufzen, der See schwitzt, das Gras überzieht sich mit Tau.
Aus den Wolken regnet es.
Durstig trinkt die Erde, was der Himmel gibt.
Tropfen fallen in den See
Kreise um Kreise, sich weitend
Das stumme Echo des kreisenden Wassers brandet dem Ufer zu
Morsezeichen leitet die Erde weiter.
Marie schaut einem Tropfen zu, wird selbst Tropfen
der aus der Wolke stürzt, auf dem Wasser aufschlägt
seine Oberfläche durchbohrt,
spürt sich in Kreisen auflösen
und ist wieder am Anfang.

Geh und nimm alles mit, was die Zeit dir schenkt
atme es ein und aus
fahre die Tentakel aus
und trage es weiter in wachsenden Kreisen
Spiralnebel
steige aus dem Wasser , erhebe dich in die Luft
Kreise!

Spurensuche, Claire sucht Marie 6

Liebe Marie,

etwas erstaunliches ist geschehen: heute Morgen war ich so unruhig und ganz hoffnungslos – wie soll ich auch die Stecknadel im Heuhaufen finden – und jetzt, nachdem ich ein wenig geschlafen habe, gehts mir viel besser. Ich träumte vom Meer. Es war warm und smaragdgrün. Ich schwamm weit hinaus und sah eine rote Insel – schemenhaft zeichnete sich eine dunkle Bergkette ab. Plötzlich war eine Nixe neben mir. Sie flüsterte mir ins Ohr: „Finde Clarisse.“

Ihre Stimme war perlend und hell, wie eine unterirdische Quelle und die grünen Haare ringelten sich wie frisches Seetang um ihren schmalen Kopf. Ich wollte weiter schwimmen, aber sie griff an meine Schulter und gebot mir, zurück zu kehren aus meinem Traum.
Ich bin aufgestanden und in die Küche gegangen. Dort in der Schublade oben rechts, das weiß ich noch, liegt dein grünes Adressenbuch.

liebe Grüße, Claire

Spurensuche, Claire sucht Marie (5)

Liebe Marie,

ich fühle mich so allein, von aller Welt verlassen. du, meine liebste Schwester, wann werde ich dich wieder sehen? Ich habe Angst. Um mich, um dich, um uns um das alles, was sich in eine Richtung verändert, die uns unwiderbringlich auseinander treiben könnte.  Zusammengekrümmt liege ich in deiner Hängematte, und endlich kann ich weinen. Die Tränen sind heiß und laufen über meine Wangen, sammeln sich in den Haaren und nässen das Kissen. Alles feucht und in mir weicht alles auf. Ich habe Angst, denn niemand versteht mich, so wie du es getan hast.
Ja, es gab diese kurze Begegnung mit Leander, aber das war nur ein dichter Augenblick, in der sich zwei Menschen trafen, die von gleicher Art zu sein schienen, eine Seelenverwandschaft vielleicht. Die Uhren gingen ander sin diesem Augenblick. Er und ich trafen uns an einem Kreuzpunkt und gingen in unterschiedliche Richtungen weiter …

Ich weiß nicht wo du bist, Marie – und Leander – wo bist du – seit ihr- jetzt unterwegs? Kommt ihr zurück? Lebt ihr überhaupt noch? Von aller Welt verlassen, hast auch du mich verlassen, Marie oder habe ich dich verlassen?
Es tut so weh. Im Radio Blues. Es passt zu meiner Stimmung. Gerade läuten die Glocken den Mittag ein. Ich werde ein wenig schlafen. Vielleicht geht es dann besser. Bitte Marie, pass auf dich auf.

Claire