Vom grünen König, die Dritte

Einst traf ich Katharina. Sie war traurig. Ich tröstete sie und kämmte ihr das kastanienbraune Haar mit einem goldenen Kamm.
So kam es, dass sie mir eine Geschichte erzählte:

„Der grüne König lebte wie ein Fisch im rubinroten Meer. Ab und zu wurde es ihm langweilig in seinem Reich am Grund des Ozeans. Er sprang hoch über den Wellen, wie ein Delphin. So sah ich ihn an jenem Tag, als ich mich entschlossen hatte, einem Ruf zu folgen, den ich in meinem Inneren gehört hatte. Ich lieh mir von den Fischern im Hafen ein blaues Boot und segelte hinaus zu der kleinen Insel hinter dem Horizont.
Wenn ich gewusst hätte, was mit mir geschehen wird, ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte, mich diesem Abenteuer zu unterwerfen.

Der Fisch und ich – unsere Blicke trafen sich und etwas schwirrte plötzlich durch die Luft: regenbogenfarbige Liebesäpfel.
Da war etwas, das hatte ich noch nie erlebt.
Kennst du das Gefühl, endlich nach langer Reise angekommen zu sein, und zu begreifen, was es heißt, zu Hause zu sein?
Für einen Menschen, der vor langer Zeit sein Zuhause verloren hat, ist das wie ein Wunder.
Der Fisch war riesengroß und verschlang mich mit einem Biss. Nichts hatte ich ihm entgegen zu setzen, denn die Liebe, die mich ihm verband machte mich wehrlos. Eine Liebe, die anders ist, als die zwischen Mann und Frau.

Der Biss tat nicht weh. Eine spiralförmige Rutschbahn wie aus rosaroten Perlmutt führte mich in den inneren Garten des Fisches. Dort lebte ich eine Weile. Es ging mir gut, denn der Fisch verstand mich, wie kein anderer und nährte mich mit allen seinen gesammelten Worten. Ohne es zu wissen, habe ich schon immer darauf gewartet. Begierig labte ich mich an ihnen, konnte nicht satt werden. Ich wuchs, und es wurde enger um mich herum. Schon bald füllte ich den gesamten Garten aus. Ein wenig später konnte ich kaum noch meine Glieder bewegen.

Der Fisch verlor seine Worte. Ich lag ihm schwer im Magen, und eines Tages spie er mich aus. Ich flog durch die Luft zurück in den Hafen, wo mich keiner vermisst hatte. Ich war ganz allein, fühlte mich verloren und konnte vor Kummer kaum atmen. So setzte ich mich in den sommerwarmen Sand, bis eine Möwe sich neben mir nieder ließ und mich tröstete.

Der Schmerz brandete in mir wie Ebbe und Flut. Es wurde Nacht und wieder Tag. Als sich die Nacht zum dritten Mal über mich senkte, hatte ich keine Tränen mehr. Zum Glück wurden die Gezeiten des Schmerzes um den Verlust flacher. Wäre die Möwe nicht bei mir geblieben, mir wäre das Herz gebrochen.
Das ist nun sieben Jahre her – eine lange Zeit – aber die Sehnsucht ist geblieben. Ab und zu gehe ich zum Strand und schaue hinaus auf die Wellen: und manchmal für einen kleinen Moment sehe ich ihn, und er sieht mich – und die Liebesäpfel fliegen – tragen trotz der Ferne eine beglückende Botschaft. “

Katharina hatte sich unter meinen kämmenden Bewegungen allmählich entspannt. Ihre Geschichte plätscherte dahin, wie die unterirdischen Quellen einer vergessenen Höhle. Mit dem gleichbleibenden Auf und Ab der Stimme, fiel sie in eine Art Trance.
Als die Geschichte endete waren auch die langen Locken gebändigt und ich sprach:

„Komm, ich nehme dich mit in die Gärten der Hesperiden. Dort bette ich dich unter dem Baum mit den goldenen Äpfeln, und es wird heilen, was heilen muss.“

Meine Hauptfiguren und ich (1)

Seit Tagen möchte ich etwas über meine Beziehung zu den von mir erfundenen Hauptpersonen erzählen, und immer kommt mir was dazwischen, z.B. das wundervolle Wetter, ein Brot, das noch gebacken werden möchte, ein Telefonat, die nun fertige Blütentasche, der Haushalt und meine berufliche Arbeit natürlich.
Ich schreibe seit 2003. Zunächst schrieb ich wie besessen Gedichte, dann bekam ich plötzlich Spaß am Erzählen und Fabulieren. 2005 erhielt ich die Diagnose BRUSTKREBS. und von jetzt auf gleich war nichts mehr wie vorher. Wie umgehen mit dieser Krankheit? Wie sich selbst helfen, wenn die Chemo so wirkt, als sei gleich alles zuende? Wie umgehen mit der ganzen Zeit, die ich plötzlich hatte?  Körperlich schwanden nicht nur meine Haare sondern auch meine Kräfte. So schrieb ich um mein Leben. Zunächst entstand eine Art Briefroman- Die Hauptfiguren Jule van Maaren aus Wien und Konrad Blauregen aus Berlin. Ich fand es sehr spannend, beim Schreiben zu erleben, wie erdachte Personen plötzlich Konturen, Persönlichkeit und Ausstrahlung erhalten und zu leben beginnen. Etwas später, in der schwierigsten Phase meiner Erkrankung, fand mich MARIE. Damals vermisste ich festen Boden unter den Füßen. Alles war ungewiss und schwankte. Ich fühlte mich, wie jemand, der eine einsame Reise über den großen Ozean antritt. Natürlich, da waren meine Familie, liebe Freunde und Bekannte, die mich emotional und mental  unterstützten, aber letztlich, durch eine solche  Krankheit geht jeder auch ein Stück weit ganz allein.
Auch MARIE ist nicht wirklich allein, als sie beschließt, in ein Boot zu steigen, sich auf den Ozean zu trauen, ihrem Gefühl zu folgen und der Stimme der Vernunft den Mund verbietet. Wie ich ist sie auf einer Reise ins Ungewisse. Der Ausgang ist zu diesem Zeitpunkt offen. MARIE hat nur ihre Sinne, die Intuition und ihre innere Stimme(n) dabei und ein paar Gegenstände, die sich im Verlauf der Reise als äußerst wertvoll entpuppen werden. Es gibt keine Verkehrsschilder, keine Wegweiser und nichts Offensichtliches, an dem man sich festhalten kann.
Es entsteht das Logbuch. Jeden Tag wird darin vermerkt, was gerade passiert oder auch nicht, wie die Stimmung ist, was das Wetter sagt, ein grüner Delphin taucht auf.
Mit MARIE fand ich während dieser Zeit eine Menge hilfreiche Schätze in meinem Inneren, die für die Bewältigung meiner Erkrankung  äußerst wertvoll waren.
Teilweise schrieb ich wie im Rausch. Gerade wenn körperlich gar nichts mehr ging, beamte ich mich mit dem Schreiben einfach aus meinem Körper weg. Die Geschichte entwickelte sich ganz ohne  vorgefertigten Plan während des Schreibens – rein intuitiv.  Mit MARIE´S Logbuch schrieb ich mir selbst eine heilsame Geschichte.
I

Wandlung

Welche Gespenster, Geister und Luftschlösser; welche Abgründe, Schatten und Unholde durch MARIE´S scheinbar traumlosen  Schlaf spazierten und sich angeschickt hatten ein Bühnenstück zu inszenieren, ich weiß es nicht, aber ihre Lieder flatterten, und einmal – ich hielt gerade die trockene zarte Hand – einmal huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

Es war so berührend, dass ich beschloss, nun jeden Tag eine Weile an MARIE´S  Bett zu sitzen und ihr eine  Geschichte zu erzählen. Vielleicht die Geschichte von FRAU MAI, die bisher weder einenPlatz besaß, noch einer konkreten Motivation gefolgt war. Wer konnte schon sagen, was geeignet war, den Geist eines Menschen, der im Koma lag, zu veranlassen, sich wieder mit seinem Körper zu verbinden?

Mir, Claire, wurde in diesem Augenblick bewusst, dass dieses Geschichtenerzählen, wenn nicht für MARIE, so doch für mich selbst etwas Heilendes besaß:
ich kann etwas tun, die Zeit nutzen und versuchen mit meinen Mitteln MARIE zu erreichen. Es wird meiner Ohnmacht die Hilflosigkeit nehmen und das brüchig gewordene Band zwischen zwei Freundinnen, die keine gemeinsame Sprache mehr besitzen, erneuern.

Erinnerung an einen Drachen

Etwas veränderte sich in MARIE. Es geschah innen, fand seinen Weg nach außen und blieb den Augen von Claire nicht verborgen. Marie im weißen Hemd auf der sterilen Liege – mit Kabeln am Körper zu den Monitoren an ihrer linken Seite – bewegte sich nicht. Und doch, es war als wehe Wind einen Schauer über ihre Haut. Die Augenlieder flackerten zart wie Libellenflügel.
Claire nahm Maries linke Hand in die ihre und legte schützend die Rechte darüber.
Unter Maries kühler Hand pochte das Blut, und es schien so, als sei da plötzlich mehr Energie, als noch vor wenigen Augenblicken.

Hätte Marie beschreiben können, was in diesem Augenblick geschah, sie hätte erzählt, wie sie den Ausgang der Höhle erreicht und den Drachen, der tief unten wütete, hinter sich gelassen hat. Sie würde erzählen, wie sehr die Sonne ihre Augen geblendet hat, als sie über die Steinmauer klettern wollte, um in die Gärten zu gelangen, ihre Gärten am Meer, die sie so vermisst hatte, und die ihr nun davon erzählten, dass die Rosen immer noch blühen, und dass seit damals nicht wirklich Zeit vergangen ist.
Sie hätte vom Duft der Blumen gesprochen und ein Märchen über die bunten Schmetterlinge und den grünen Leuchtkäfer erzählt. Schließlich hätte sie Claire über die Mauer gezogen, um sich mit ihr unter der alten Kastanie im Moos niederzulassen. Ja, sie hätte sie aufgefordert, mit ihr aus dem Brunnen der Erinnerung zu trinken.

Aber noch konnte Marie nicht sprechen. Der Geist fand nicht den Weg zurück in sein kostbares Gefäß. Allein die Gefühle hinter den Worten, denen in diesem Moment Flügel gewachsen waren, trugen sie dorthin, wo ihre Seele zu Hause war, dorthin wo Heilung wartete: in ihre Gärten am Meer.