Es ist früh am Abend und dämmert bereits. Durch das geöffnete Fenster weht der Wind herein und bewegt die Gardinen, die dich nicht vor meinem Blick verstecken können.
Du hast heute lange am Schreibtisch gesessen, Emails gelesen und in Texten gestöbert, ein bisschen in Foren geschrieben, Bilder angeschaut. Hin und wieder hast du die Stirn gerunzelt, so als habe dir jemand über das Internet Verwerfliches und Ungestümes oder Unerwartetes zu geflüstert. Du hebst den Blick, schaust hinaus aus dem Fenster ohne zu sehen, lauscht dem Rascheln der Herbstblätter im Ahorn. Wenig später, du hast den Kopf wieder gesenkt, huscht ein Lächeln über dein altes Gesicht.
Bestimmt liest du gerade meine Zeilen und ahnst von dem, was ich dir auf keinem Fall verraten werde. Vielleicht aber liest du auch die herzerwärmenden Zeilen einer anderen Frau, die du sanft und zärtlich mit deinen Worten eingefangen hast und die dir jetzt zu Füßen liegt.
Langsam stehst du auf. Die Beine sind steif geworden, der untere Rücken schmerzt. Du drückst den Rücken durch, weitest die Brust und legst die Handaußenflächen in die Nierengegend. Mit ein paar tiefen Atemzügen trotzt du dem Schmerz. Die warmen Hände entspannen den Rücken. Noch ein tiefer Atemzug, der sich beinahe wie ein Seufzer anhört, dann drehst du dich um, richtest den Blick auf die Landkarte, die da vor dir an der Wand hängt und auf der bunte Nagelköpfe ein Muster hinterlassen haben, an manchen Stellen dicht gedrängt, an anderen weit gestreut.
Auf einem hellen Kiefernschränkchen daneben steht die Blechdose mit den Nägelchen. Bedächtig wählst du eines mit blassblauen Kopf. Du suchst eine Stelle auf der Landkarte und stichst zu. Jetzt ist es fest genagelt und aufgesspießt.
Was in dir vorgeht, spiegelt sich in deinem Gesicht: einerseits spürst du Triumph, denn wieder hast du es geschafft, eine mit Worten in dich verliebt zu machen. Andererseits will der schale Geschmack im Mund nicht weichen.
Immer folgt es dem gleichen Muster, du weißt es längst, nichts Überraschendes geschieht. Nicht einmal, wie es enden wird bleibt ungewiss.
Dabei wünschtest du dir immer nur eines, dass da eine kommt, die dich mütterlich in die Arme nimmt und mit bedingungsloser Liebe deine Wunden heilt.
Und käme da wirklich eine, die ernst macht, mit dem was du wünscht, du würdest es nicht aushalten können und sie in Stücke zerreißen müssen.
Schmerz

AURORA, DIE AUF DEM SEIL TANZT 16
3.5
Lieber Leuchtturmwärter,
ich schwebe über das Seil durch den Frühling – alles ist so ungewöhnlich, fast surrealistisch. Manchmal zeichnen sich Male in die Gesichter der Zuschauer, ihre Münder sind weit aufgerissen und verzerrt, und in den Augen lodert Angst. Sie werden fahrig und halten den Atem an. Unter die Wangenknochen malen sich dunkle Schatten. Die Haut scheint in ein sonderbares Licht getaucht. Sie wissen nicht, dass es für mich auf dem Seil sicherer ist, als zu ebener Erde. So bin ich in ihren Augen wohl weder Mensch noch Vogel. Keine blaue Feder findet das Kind. Aber es lacht und wirft mir eine Kusshand zu. Ich verneige mich vor ihm, und es beschenkt mich mit leuchtenden Augen. Ich schlage ein wenig mit den Flügeln, gewinne Wind, und fliege mit den Gedanken, wohin ich will. Gestern war wieder Flut: wohin mit den traurigen Gefühlen, wenn der so vielversprechende Tag mit Tränenfluten beginnt? Einmal mehr stelle ich fest, dass ich nicht überall hinfliegen sollte. Es gibt Erinnerungen und Themen, die mich dem Abgrund nah bringen – gefährlich!
Manchmal aber gehe ich mit Absicht in den Schmerz hinein, wie in einen dunklen Tunnel, gewiss, am Ende wartet Licht. Die Menschen können einander nicht retten, aber sie können sich die Hände reichen, einander liebevoll begegnen und Trost spenden. Gute Wegbegleiter können sie sein, eine lange oder kurze Weile. Denkst du mal an mich, wenn die Sonne im Meer versinkt und alles rotgülden glänzt? Der Schmerz und die Freude, Lachen und Weinen. Alles liegt dann ganz nah beieinander. Ich denke oft an dich, frage mich, wie es dir wohl geht auf deiner einsamen Insel.
Aus der Ferne umarmt dich deine Aurora

AURORA, die auf dem Seil tanzt 7
10.2.
Hallo liebster Federfreund,
der Nachmittag war schön. Er brachte Sonnenschein und im Licht sahen die verregneten Straßen silbern aus. Ich hängte mein Seil auf und wagte mich hinauf. Was für ein Hochgefühl, wieder oben zu stehen und gekonnt mit der Balancierstange zu jonglieren, aber dann – wieder unten – rutschte die Stimmung in den Keller. Ich kann dir nicht sagen, wodurch es ausgelöst wurde.
Ich bin traurig und dieser Schmerz brandet in mir wie Ebbe und Flut, immer neu, unvorhersehbar, nie gleich. Glaubst du, dass man sich in einem Menschen verlieren kann? So, dass man sich nie wiederfindet? Selbst wenn man glaubt, man hat sich wiedergefunden – und schon jubiliert das Herz – kommt die nächste Welle und schwemmt einen fort.
Ich hatte mich doch längst freigeschwommen. Ich verstehe mich nicht und zürne mir.
Warum bin ich oben auf dem Seil viel sicherer, als unten auf dem Boden. Dort brauche ich ein doppeltes Netz, um den Stolperfallen zu entgehen.
Wirf mir das Netz herrüber, und zieh mich auf deine Insel. Ich möchte ganz oben im Leuchtturm neben dir sein, über das Meer schauen und deine Nähe spüren.
Gute Nacht sagt für heute Aurora
Verwurzelt fliegen
v
angst orten – den schmerz aushalten
trauer zulassen
und abschied nehmen
etwas sterben sehen
sich leer weinen
spüren
die füße ankern im boden
verwurzelt finden sie quellen
dort – wo die erde schläft
und pulsierend leben schenkt
mit dem trommelschlag der zeit
schwingst du im gleichklang
fühlen
der geist erdet im universum
gehalten – geführt
dort – wo der himmel sich wölbt – wirkt
deine gedanken und träume beschützt
und dir nischen gewährt
im grenzenlosen raum
atme sie ein – diese kraft – tief
dann lass los
die trauer, den schmerz und die angst
und lehr dein herz fliegen
(2005)
Spurensuche, Claire sucht Marie(2)
Tag 2
Liebe Marie,
nun bin ich schon seit gestern in deiner Wohnung. Ich schaukelte in der Hängematte und versuchte, mich an dich zu erinnern. Mir war, als habe ich etwas Wichtiges übersehen. Ich grübelte, aber mein Kopf streikte. Er reagierte mit Schmerz – ein spitzer Schmerz, der im Nacken begann und sich wellenförmig nach oben in den Schädel ausweitete. Zum Glück fand ich in deiner Hausapotheke eine Tablette. Rostig verfärbt sprudelte das Wasser aus dem Hahn. Ich ließ es lange laufen, bevor es klar wurde. Um mich abzulenken schaute ich – wie immer – deine Post durch. Dabei fiel mein Blick auf einen zartblauer Brief mit dem Vermerk „eilt“. Der unverklebte Brief kam von weit her. Ihn zierten Briefmarken mit exotischen Blumen. Die klare Handschrift auf dem Umschlag war mir sympathisch und ließ sich gut lesen. Ich öffnete den Brief. Ein Foto fiel heraus. Und mit ihm dünne, eng beschriebene Bögen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich das Foto eines Menschen – ein Alltagsfoto, schwarz-weiß – jemals zuvor so stark berührt hat. Laut und ungestüm klopfte mir das Herz. Was war mit mir los?
Ich will dieses seltsame Gefühl ausloten und bis zur Neige auskosten: Ich lege das Bild wie einen Talisman unter dein Kopfkissen, auf dem ich schlafen werde heute Nacht – nehme es mit als Pfand für die Träume . Wer weiß, welche Antworten ich morgen finde. Alles fließt – ich muss nichts übereilen – was geschehen soll, wird geschehen. Den Brief werde ich morgen lesen.
Seltsam getröstet, Claire
das leben überleben
wieder diesen schmerzes erinnert/ wie er damals war/ obwohl die zeit der trauer lange abgelaufen ist/ in den körper eingebrannt, nun erinnert/ angerührt vom erleben eines anderen menschen/ mitleid? nein./ mitgefühl!
vielleicht haben wir ALTEN wirklich etwas weiterzugeben:
die kunst zu wachsen an trauer und schmerz/ die kunst, damit zu leben, zu überleben/ um später, manchmal viel später, frieden zu machen damit und das vergangene zu segnen