Aurora, die auf dem Seil tanzt 12

16.4.

Hallo lieber Traumtänzer,

ganz gewiss bist du es, von dem ich nachts immer träume, mein echter, wirklicher Freund. Ahnst oder weißt du es? Ich bin unterwegs – hüpf – Aurora hat ihr Bündel gepackt und ist dem Alltagseinerlei entflohen. Ich fühle mich frei und gelöst, wie lange nicht, habe es geschafft, die Schwelle zu überschreiten. Hatte erst noch einen heftigen Kampf mit dem kleinen schwarzen Teufel, weißt du, der mit den roten Hörnen, der mir immer dazwischen redet, Recht behalten will und ein unleidlicher Giftzwerg ist, ein richtiger Miesepeter, Schlechtwetterprognostizierer – eben der, der mich daran hindern will, zu tun, was ich tun möchte. Diesmal habe ich ihn besiegt. Es ist so toll, so unbeschreiblich: ich wachse wie eine Riesin in die Höhe. Wie stark ich plötzlich bin. Morgen kannst du mich auf Wolke Sieben abholen. Es fühlt sich gut an, unterwegs zu sein. Dabei nutze ich alle verfügbaren Möglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs. Jetzt gerade ruhe ich mich aus, habe meinen Abendplatz gefunden. Das Zelt steht schon, und gerade habe ich im Wasser den ersten Stern gesehen. Meine Füße baumeln im Wasser zwischen den Algen und Fischen. Ach tut das gut nach dem langen Fußmarsch. Auf dem Kocher zieht frische Minze im Teewasser. Es duftet!

Seit vorgestern bin ich unterwegs. Gestern spannte ich mein Seil in einer Kleinstadt auf. Zuerst waren die Kinder da, dann kamen die Eltern und die Laufkundschaft. Auf dem Marktplatz war Hochbetrieb. Alles klappte und die Zuschauer entlohnten mich begeistert und großzügig. Habe jetzt genug für eine Woche. Eine junge Frau bot mir ein Nachtlager an und bewirtete mich reichlich. Es war ein geselliger Abend, und ich schon ein wenig traurig, heute Morgen wieder aufzubrechen.
In der S-Bahn saß mir ein etwa gleichaltrige Frau gegenüber, aber von der erzähle ich dir ein anderes Mal. Sie heißt Jule und kommt aus Wien. Ich bin müde.
Und du, mein Freund, was tust du? Du läufst unruhig über die Insel. Was treibt dich so? Dich zieht es zum Festland, du brauchst Menschen, Nähe, ein bisschen Körperwärme. Dir fehlt eine Frau. Zwar bin ich nicht die deine, aber ich komme, spätestens, wenn die Klaräpfel reif sind. Du wirst es wissen; wenn sich zum ersten Mal der Herbst in den Sommer mischt, dann erwarte mich auf deiner Insel.
Ist nicht das Wasser die Weltenseele, über die wir alle miteinander verbunden sind?

Es grüßt dich von Herzen eine flohfrohe Drahtseilakrobatin.