AURORA, DIE AUF DEM SEIL TANZT 17

18. 5

Hallo lieber Traumtänzer,

du bist mir abhanden gekommen, scheinst weit weg zu sein. Ich würde dich so gern erreichen. Hast du dich vielleicht für eine Weile ins Schneckenhaus verzogen? Quäl dich nicht zu sehr. Lass das Dunkle dich nicht überwältigen. Schau, ich schicke dir Licht und warme Energie. Bald ist Sommer und die Schwarzkirschen reifen.
Zwei Wochen habe ich nun meine Reise unterbrochen, Zeit zum Innehalten und Bleiben. Es war ein bisschen schwierig, aber meine kleine Schwester nahm mich auf. Ich berichte ein anderes Mal davon. Alles ist noch so frisch, muss erst sacken. Aber seit heute Morgen bin ich wieder unterwegs, muss mich halt dem Wetter fügen. Ich fließe, bin ein Fluss, der Ozean ist mein Ziel und die Insel, auf der du lebst. Morgen werde ich in Bremen tanzen, und „Die Bremer Stadtmusikanten“ schauen zu – smile!

Aurora, die dem Wind in den Blättern lauscht

Aurora, die auf dem Seil tanzt 10

2.3.

Mein liebster Traumtänzer,

kannst du mir mal sagen, warum Aurora immer wieder in die gleichen Fallen stolpert ? Jetzt bin ich es, die sich im Schneckenhaus versteckt und traurig darauf wartet, dass jemand sie vermisst, nach ihr fragt und sie sucht.

Natürlich habe ich niemanden gesagt, wo ich hingehe. Im Hausflur begegnete mir die Nachbarin. Obwohl mir nicht danach war, grüßte ich herzlich und lächelte sie aufmunternd an, sprach ein paar Worte mit ihr. Ich bin perfekt darin, meinen Schmerz und meine Traurigkeit hinter glatter Mine zu verbergen. Sie hat es nicht leicht. Ihr Mann ist ein widerlicher Tyrann, der um sich schlägt, wenn er einen über den Durst getrunken hat. Wenn es arg ist bei ihnen, schickt sie mir den Kleinen. Er ist gerne bei mir und fühlt sich hier wohl. Gestern habe ich begonnen, ihm das Jonglieren bei zu bringen. Das lenkt ab.
Wenn die Bälle im Bogen fliegen und die ganze Konzentration im perfekten Rhythmus des Auf und Ab ruht, ist keine Zeit für Traurigkeit und Wehmut. Es lebt sich leicht, und das Blut fließt ohne Hindernisse durch den ganzen Körper. Es gibt kein „Eben“ und kein „Gleich“, nur ein „Jetzt“ und das Lächeln des Augenblicks.

Ich gehe jetzt schlafen. Hoffentlich träume ich wieder von dir.

Seiltanzend – im Nachthemd – grüßt dich Deine Aurora

FLASCHENPOST 1

7.7.

Liebe AURORA,

 

lange habe ich geschwiegen und dich darüber im Unklaren gelassen, ob es mich gibt.
Ich war mir unsicher. Du eine schreibfreudige Seiltänzerin, deren Briefe mir ans Herz gewachsen sind, mich oft aus meinem Schneckenhaus gelockt und mir ein Lächeln auf die Lippen gezaubert haben, warst mir zu fremd. Wer bist du nur, und warum schreibst du mir, einem völlig unwichtigen Menschen? Wer macht denn so etwas schon?Außerdem bin ich den Umgang mit Menschen nicht gewohnt und etwas ungelenk mit den Worten. Aber du hast dich nicht davon abhalten lassen, weiter Briefe zu schreiben. Doch dann kam nichts mehr, plötzlich kein Lebenszeichen mehr von dir. Ich war traurig.
Am liebsten hätte ich alles stehen und liegen gelassen, wäre in ein Boot gestiegen, über den großen Ozean gesegelt, um dich zu suchen in deinem kleinen Haus, mit den blauen Fenstern, hinter den Dünen, am Rande der großen Stadt.

Tatsächlich habe ich widerspenstige, kaum zu bändigende Locken und bernsteinbraune Augen. Meine Stimme ist weder Tenor noch Bariton, sondern ein Mezzosopran. Manchmal singe ich gegen den Sturm an. Ich bin aber leider kein Traumtänzer, sondern eine eigenbrödlerische Traumtänzerin, lebe aber wirklich auf einer kleinen Insel, zähle dort die Vögel und halte den Leuchtturm in Schuss. Ab und zu kommen Besucher mit dem Schiff. Ich zeige ihnen mein Reich und bin froh, wenn sie am Abend wieder den Rückweg zum Festland antreten.
Beinahe bin ich eine Königin hier.
Die Vorstellung gefällt mir!
Allerdings kann ich mit herrschaftlichen Roben, perlenbesetzten Stöckelschuhen, Schmuck und Krone nichts anfangen. Ich trage Jeans, Karohemden, dicke Socken, Wanderschuhe. Mütze und Schal dürfen nicht fehlen, auch nicht der dicke Parka und die kuscheligen Fleecejacken.
Der Wind hier ist frisch und oft stürmisch, einäußerst launischer und ungebärdiger Geist.
Ich könnte dir Geschichten erzählen…. und ganz sicher würdest du sofort eine Gänsehaut bekommen.
Meistens liebe ich mein einsames Leben, nur bisweilen fühle ich mich einsam. Zum Glück legt einmal in der Woche das Proviantschiff an, und ich trinke mit dem Schipper einen heißen Tee. Wir haben uns immer was zu erzählen, auch Dönekes und Seemannsgarn.
Er bringt mir natürlich auch die Post vom Festland mit.
An einer geschützten.Stelle auf der Insel lege ich mir gerade ein Gärtlein an. Und einen treuen Freund besitze ich, Leon, der Wolfsspitz.
Ich schicke meinen Brief per Flaschenpost, und hoffe, er erreicht dich.
 
Gruß aus der Ferne, ANTONIA, die Traumtänzerin.

Aurora, die auf dem Seil tanzt 6

8.2

Mein liebster Traumtänzer,

hast du schlechte Laune?
Bist du genervt?
Die Möwe, unser heimlicher Bote, kam schnodderig zurück. Sehnst dich wohl  zurück in dein Schneckenhaus, hm?
Und kannst doch den vielen geöffneten Türen nicht widerstehen.
Verstehe ich, geht mir manchmal auch so. Heute ist Schietwetter, kalt und nass – es kriecht regelrecht unter die Haut und lässt frösteln.
Ich war eine Weile draußen, plauderte mit dem Briefträger – harter Job bei diesem Wetter.
Am Morgen stand ich am Fenster und schaute hinaus – es regnete ohne Unterlass, und zwischendurch fiel Schnee. Meine Hände waren ungeduldig, wollten Beschäftigung, also faltete ich lauter kleine weiße Segelschiffe.
Eben nun klingelte es an der Haustüre, und das Nachbarkind besuchte mich – ein schüchterner Fünfjähriger, der gerne Geschichten hört.
Da kam mir eine Idee: ich zog Gummistiefel an. Zusammen gingen wir in den Regen, ließen die kleinen Segelboote in den Pfützen schwimmen und taten so, als seien wir gefährliche Piraten, die in einen Sturm geraten sind.
Es dauerte nicht lange, und wir waren durch und durch nass.
Schnell wieder ins Haus, gut abgetrocknet und heiße Schokolade gekocht.
Ein paar Reste Weihnachtsplätzchen fand ich am Grunde der Blechdose mit den zierlichen Engeln. Sie schmecken noch sehr gut und duften nach Anis und Zimt. Wir hatten viel Spaß miteinander, der Junge und ich.

Dann holte seine Mutter ihn ab,  ich legte die Beine hoch, entzündete Kerzen. Nun denke ich mir den Brief an dich aus.
Aus dem CD-Spieler klingt Opernmusik – Arien, und alles ganz laut.

Mein Fuß hat sich gut erholt.
Wenn das Wetter morgen trocken ist, geh ich aufs Seil, Aurora