AURORA, DIE AUF DEM SEIL TANZT 18

23.6

Liebster Traumtänzer,

ich bin auf dem Weg zu deiner Insel. Ja, ja, es ist so weit, das Jahr wendet sich. Heute sah ich Feuer brennen. Wie wunderbar, sein Stoffhaus unter dem Sternenzelt aufzubauen und drüben auf der anderen Seite des Flusses die Funken stieben zu sehen. Eine turbulente und angestrengte Zeit liegt hinter mir, habe fast jeden Tag eine Vorstellung auf diversen Marktplätzen gegeben. Stell dir vor, gestern sprach mich ein Mann an, wollte wissen, ob ich Interesse daran hätte, als Seiltänzerin in einem Film mitzuwirken. Wir tauschten die Adressen aus und verabredeten uns zum Gespräch über den Film im September. Danach werde ich Jule in Wien besuchen. Das Wetter in den letzten Tagen hat mir zugesetzt. Für diesen Sommer habe ich mein Geld redlich verdient. Ich sitze vor dem Zelt und lausche auf die Geräusche: die Kinder sind still jetzt, schlafen nach dem aufregendem Ferientag, aber im Zelt gegenüber spielen zwei Gitarristen spanische Musik, und vom anderen Ufer erreichen Trommelklänge mein Ohr. Ich bin gar nicht müde. Es gelingt mir nicht, einfach den Abend mit seiner Schönheit zu genießen. Meine Gedanken sind wie Zugvögel, sie kommen immer wieder zurück. Ich vermisse ein „Du“ eins, dem man sein Herz ausschütten kann; eins, bei dem die „Zugvögel“ zwischenlanden können, bevor sie in den Süden ziehen; eins was einfach da ist. Es wäre so wunderbar die innersten Gedanken mit jemandem zu teilen. Du könntest dieser Jemand sein, aber real gibt es dich ja nicht. Obwohl immer unter den Menschen, bin ich allein. Die Leute verstehen mich nicht. Oder verstehe ich die Leute nicht? Ich weiß nicht, bin zuviel mit mir allein.

Bald sind die schwarzen Kirschen reif. Das Meer ist nicht mehr weit. Ich lege den Brief in eine Rotweinflasche und werfe sie in den Fluss. Vielleicht erreicht er dich. Ich vermisse die weiße Brieftaube.

Aurora, mit den Tanzbeinen

Nicht nur der Briefe wegen

AURORA erhebt sich aus der Nacht und breitet ihre Schleier aus. Sie ist erwacht aus tiefen Schlaf und füllt mit Energie den Tag.Mit federnden Tanzschritten betritt Aurora die Szene. Sie ist durch das Loch in der Hecke geschlüpft und steht nun vor einem bunten Zirkuszelt.

Wie ist sie nur hierher gekommen? Eben noch war sie zwischen den Zeilen eines Buches eingefangen. Ihre zierliche Figur streckt und reckt sich. Ganz steif fühlen sich die Glieder an. Sie schüttelt Buchstaben aus den weiten Ärmeln ihres bunten Flickenkleides. Selbst aus den langen Haaren purzeln Buchstaben, Silben, ja ganze Worte.

Sie schüttelt sich, so als sei sie ein Vogel, der sein Gefieder lüftet. Ja, sie plustert sich auf, wächst. Erst hebt sie elegant das rechte, dann das linke Bein, streckt und beugt das Fußgelenk und jeden einzelnen Zeh, der mit dem Fuß in ihren schwarzen Seiltänzerinnenschuhen steckt.

Sätze wollen ihr nicht über die Lippen tanzen, aber ein Lächeln strahlt aus dem alterslosen Gesicht. 

„Ich bin angekommen!“ denkt sie bei sich und hat schon die zwei gegenüberstehenden Bäume entdeckt, zwischen denen sie ihr Seil spannen kann. Es juckt in den Beinen. Am Liebsten möchte sie sofort. Zu lange schon war sie untätig und ohnmächtig im Buch gefangen.

„Na klar, ein Mensch hat sie erfunden,“  aber sie ist lebendig geworden und wollte ein Leben außerhalb der Gedanken und Schriftzeichen der Autorin leben. „Wie kommt ein Mensch eigentlich dazu, seine lebendig gewordenen Gedanken zwischen Buchdeckeln einzusperren?“ fragt sie sich und geht auf den Eingang des Zirkuszeltes zu.

Sie muss ihren Auftritt planen und erst einmal heraus finden, ob jemand im Zelt ist – sie hört nichts außer dem Blätterrauschen und dem Plätschern eines Baches in der Nähe – und ob sie hier erwünscht ist. In den tiefen Taschen ihres Kleides findet sie weiße Schminke, Jonglierbälle, ein robustes Seil, viele bunten Bänder, um das Haar zu bändigen und vieles mehr. Den Balancierschirm mit den Perlengehängen an den Schirmspitzen hat sie unter den Arm geklempt.

 

Vielleicht ist AURORA im Augenblick so fest in meinen Gedanken, weil ich im Urlaub ein Zirkusbuch gelesen habe: „Wasser für den Elefanten“ von Sara Gruen. Es wurde auch verfilmt.

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Flüchtig

Schon liegen lange Schatten auf den Sonnenuhren
und mancher dunkle Pfad wird plötzlich blendend hell.
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Winde streifen tanzend über abgemähte Felder
und spielen raschelnd mit dem Laub.
Sie heulen auf und fahren unter dünne Kleider
Äpfel fallen dumpf ins Gras und bleiben liegen.
Nüsse prasseln auf das Kopfsteinpflaster
Aus den Trauben rinnt schon fast der Saft.
Die Zeit ist überreif.
„Wer jetzt kein Haus hat, baut auch keines mehr“
Er lebt in Zelten, wartet, das etwas geschieht
Aufs Smartphone schaut er voller Sorge
und fragt sich still
wie´s wohl den Seinen in der Heimat geht
Er wird nicht lange Briefe schreiben, wenn die Blätter wehen
und in Alleen nicht rastlos wandern.
Denn die gibt´s nur woanders