Stimme 7

Seit Tagen schleiche ich um das leere Blatt Papier herum.
Meine Stimme will mir was erzählen. Aber will ich es wirklich hören?
Ich fürchte mich vor dem was ich da hören werde. Denn, wenn ich ehrlich
 zu mir selbst bin, dann weiß ich, was ich hören werde.
Die Emotionen zwitschern rauf und runter, verbunden mit Stimmen und Musik.
„Baby, can I hold you tonight“ höre ich Tracy Chapman singen und singe mit,
spüre Klang und Worten nach. Erinnerungen steigen hoch. Wann war ich eigentlichdas letzte Mal verliebt?  Wann vor Sehnsucht und Begehren dauerwach? Und schon singe ich die weibliche Stimme zu Meat Loaf  in „ Paradise by the Dashboard Light“.
Oh, ich kann ja richtig laut schrill und drängend singen, wow! Während mein Puls hochgeht und sich das Tempo im Song steigert – das muss ich noch üben, ohne atemlos zu werden-denke ich nach.
Wo sind sie geblieben, meine Emotionen? Begraben? Vergraben? Oder nur verdrängt?
Alles lauwarm. Nur ab und zu noch ein Funken, der sich entzündet, der meine Augen strahlen und mich vor positiver Aufregung nicht schlafen lässt.
Das Alter, meint jemand, aber , das will ich in dieser Konsequenz nicht
gelten lassen. Die Emotionen sind doch alle noch da, allerdings runtergekühlt auf ein dem Alltag verschriebenes Maß. Wer bestimmt dieses wohltemperierte Maß eigentlich?
Singen macht mich glücklich es taut die Emotionen auf und weckt Erinnerungen. Wenn ich mir erlaube, sie wirklich zuzulassen und auszudrücken, dann bekommt auch meine Stimme die Nuancen, die ich ihr gestatte.
Die Stimme lügt nicht. Sie erzählt die wahre Geschichte des Lebens mit all seinen Erfahrungen und Emotionen.
Ich wachse schon, merke die Veränderung im Ausdruck meiner Stimme, und jetzt will sie „Wild Horses“ singen. Und wer weiß, vielleicht gelingt es mir irgendwann auch, so wie Lzzy Hale mit „The HU“ im Hintergrund zu singen: „Song of Women“. Das Stück ist der Wahnsinn, Heavy Metall vom feinsten.

Und wenn nicht, dann habe iich es wenigstens versucht.

Stimme 6

Chor tag! Von 11-17 Uhr haben wir gesungen, geprobt, unser Wiedersehen gefeiert und getönt. Jetzt bin ich wieder Zuhause ganz bei mir, seelisch gut genährt und mit mir im Reinen. Der Chor, in dem ich seit etwa 12 Jahren mitsinge, ist kein gewöhnlicher Chor. Der Chorleiter beschreibt seine Aufgabe so: „Ich bin Anstifter zum freien Singen.“ Und ja,  so hat es auch für mich begonnen, ich ließ mich bei seinen freien Singe Abenden anstiften,  habe Feuer gefangen. Wir singen ohne Noten und meist ohne Blatt in der Hand.
Was da aus uns erklingt sind spirituelle Songs aus allen Kulturen und Religionen- Wechselgesang, Kanon, Mehrstimmiges,  Song-Collagen, Herzenslieder u.v.m. und manchmal tanzen wir. 4-5 mal im Jahr treffen wir uns zum gemeinsamen Proben in einer kleinen evangelischen Kirche am Rande der Kölner Innenstadt. Dazu kommen zwei intensive Chorwochenenden.

Als Kind habe ich mit meiner Mutter, Oma und in der Kirche gesungen. Später in Köln am liebsten mit meiner Schwester Mo beim Spülen. Aber nur, wenn wir nicht gerade darüber stritten, wer Spülen darf und Abtrocknen muss. Als Ältere nahm ich mir das Recht heraus, darauf zu bestehen, dass ich spüle. Wenn wir uns darüber zu sehr in die Haare gerieten, sprach meine Mutter ein Machtwort.  Meine Schwester ließ sich nur scheinbar darauf ein  und knallte mir jeden zweiten  Gegenstand zurück ins Spülwasser: „Das ist nicht sauber.“ Mehr gab es da nicht zu sagen. So kanalisierten wir unsere schwesterliche Konkurrenz. Wenn wir zusammen gesungen haben,  waren wir ein Herz und eine Seele. Mit Inbrunst und totaler Hingabe sangen wir Kirchenlieder: „Großer Gott, wir loben dich…“  erschallte es in der Küche. Auch Kanons, Matrosenlieder, wie: „War einst ein kleines Segelschiffchen…“ und Volkslieder, „Aus grauer Städte Mauern…“  trällerten wir gerne. Die Mundorgel war uns bekannt.
Das alles war, bevor wir uns in Rocksänger und englischsprachige Bands  verliebten. 
Manchmal, sonntags, am Nachmittag war unser Haus voll, denn viele unserer Freunde kamen zu Besuch.  Wir tranken Tee, rauchten, entzündeten Kerzen und lauschten Frank, der Gitarre spielte und dazu Popsongs sang.  Es war jedes Mal das Ereignis der Woche.
Ich besuchte  die Fachoberschule für Sozialpädagogik/ Sozialarbeit und absolvierte in der Klasse 11 ein schulbegleitendes Praktikum im Kindergarten. An einem Nachmittag im Advent war ich mit der sehr unruhigen Gruppe allein. Es regnete, so dass wir nicht draußen spielen und toben konnten.  Wir setzten uns in einen Kreis, und ich sang mit den Kindern alle Advents -und Weihnachtslieder, die ich kannte. Die Kinder wurden ganz ruhig. Das war für mich eine gute Erfahrung, die ich im späteren Leben genutzt habe, wenn Streit und Unruhe überhandnahmen.
Viele Jahre später erblickten meine Kinder das Licht der Welt und brachten neue Töne und Klänge in mein Leben. Ich sang oft mit ihnen. Zunächst die alten Kinderlieder, später die modernen. An „Anne Kaffeekanne“ von Frederik Vahle erinnere ich mich besonders gern.  Dann war lange Zeit Pause, bis ich nach einer schweren Erkrankung, das heilsame Singen für mich entdeckte und in einem ungewöhnlichen Chor zu singen begann.
Wir nennen und „Singen wie im Himmel-Chor Köln“ und wie Engel klingen wir auch manchmal. Ich singe Sopran und bin immer tief ergriffen und berührt, wenn wir mehrstimmig singen. Dieses Gewebe aus Klang ist wie ein Segen über uns, die wir in diesen Momenten eine dichte Einheit bilden. Benannt wurde der Chor nach dem Film „Wie im Himmel“ der in Schweden spielt. Besonders die letzte Szene im Film ist sehr beeindruckend. Ein Chor steht bei einem Wettbewerb auf der Bühne und wartet auf den Chorleiter, der nicht kommt. Was tun, alle warten, Zeit vergeht, die Spannung steigt. Da beginnt, eine Stimme im Chor zu summen. Nach und nach stimmen die anderen Chormitglieder ein, lassen mit ihrer Stimme heraus, was hinaus will. Ein wunderschöner mitreißender Klangteppich aus geflüsterten , gehauchten und gesungenen Tonsequenzen entsteht. Der Chor trägt sich selbst, auch weil die einzelnen Chormitglieder aufeinander hören und sich achten,  weil sie sorgsam mit dem gemeinsamen Klanggewebe umgehen. Das vermittelt sich den Zuschauern. Sie lassen sich mitreißen, und stimmen mit ein. Am Ende, der Chorleiter ist nicht gekommen, gewinnt dieser Chor den Wettbewerb.
Dieses sogenannte „Tönen“ praktizieren und zelebrieren wir in unserem  Chor regelmäßig. Immer ist es sehr innig. Ein bisschen schweben wir dann über der Erde und spüren, wie uns Flügel wachsen.
In der Stille danach, die wir auskosten, kommen wir langsam zurück in die Welt. Beim Schreiben dieses Textes sind mir noch viele musikalische Erlebnisse eingefallen, und ich habe festgestellt, das Singen und der Klang begleiten mich schon immer. Es gab gar keine wirkliche Pause.

Stimme 5

„Was ist los Spatz,“ pflegte mein Vater mich zu fragen, wenn ich im Teenageralter mal wieder trübsinnig und gelangweilt in der Sofaecke saß, „ zieh doch nicht so ein langes Gesicht.“ Er sagte es stets liebevoll, und oft konnte ich dann weinen und ihm mein Herz ausschütten. Er war der einzige, bei dem ich das konnte, ein Fels in der pubertierenden Brandung.

Einmal, ich kam vom Friseur sprach mich auf der Straße jemand an. Es war ein junger Mann aus der Nachbarschaft: „Eh, du siehst fast aus wie Mirelle Mathieu.“ 

Ich soll aussehen wie diese Sängerin? Das schmeichelt mir und ließ mich innerlich erröten. Naja meine Haare waren dunkel, ich trug einen Pagenschnitt und meine haselnussbraunen Augen hatten einen sanften, freundlichen Ausdruck.   Wie ein scheues Reh mit langen wohlgeformten Beinen sei ich ausgestattet, kommentierten mich andere Menschen in meinem Umfeld.
Ich glaubte das nicht, fand diese Bemerkungen durch und durch absurd, denn ich kam mir wie eine viel zu dürre Bohnenstange vor, weder Fisch noch Fleisch.
Mirelle Mathieu kannte ich aus Radio und Fernsehen, und wir hatten etwas gemeinsam. Beide waren wir die älteste Schwester von vielen Geschwistern. Ich mochte ihre Stimme, fand sie allerdings in Konzerten immer etwas steif und  unnahbar.

Mit ihr kam ein fremdes Land zu mir und seine besondere Stadt Avignon. Das Lied von der „Pont d´Avignon“ kannte ja jeder aus dem Schulunterricht.

Wenn ich mal wieder in dieser missmutigen , gelangweilten Stimmung war oder mich über mobbende Altersgefährten geärgert hatte, zog ich einen Schmollmund und träumte mich in eine Zukunft, in der ich es allen zeigen würde. Und ich sah mich auf einer Bühne. Der Vorhang öffnete sich, das Orchester begann zu spielen, und ich sang in schwarzen,  eleganten Kleidern meine Chansons, so wie der Spatz von Avignon.
Meine innere Stimme „Aurora“, von der ich schon erzählt habe,  hat diese Idee aufgenommen und mir eingeflüstert, mich auf meiner ersten Fete als Südfranzösin auszugeben, die kaum Deutsch sprechen konnte.

Viel, viel später wurde Frankreich mein absolutes Lieblingsreiseland.

Stimme 4

Aurora ist jetzt ziemlich durchgefroren. Mittlerweile ist es Nacht und der Wind bläst Sie steht auf, geht einmal um ihren Bauwagen herum und betritt anschließend über eine kurze Treppe ihre kleine Wohnstatt. Sie greift nach den Streichhölzern, die immer rechts im Regal liegen, öffnet die Schachtel, entnimmt ein langes Holz und entzündet es. Vorsichtig  und ruhig hält sie es in der Hand, bis die Flamme etwas größer geworden ist und den Raum sichtbar macht. Aurora geht zum Tisch und entzündet die Kerze. Sie hüllt sich in die warme Decke, die auf der Schlafbank liegt.
Mit den Gedanken ist sie noch bei Ewa und der ersten Fete, die sie besucht hat. Wie lange das schon her ist. Es war schummrig auf der Tanzfläche. An der Decke hing eine Discokugel. An einen Lieblingssong erinnert sie sich „Venus“ von Shocking Blue.  Warum nur waren sie und Ewa nicht enge Freundinnen geworden? Sie mochten sich und konnten über Dinge miteinander sprechen, die andere Mädchen in ihrem Alter nicht interessierten. Das Leben hat sie getrennt bevor etwas wie innige Freundschaft wachsen konnte.

Aurora, die ewig  jung und ein Mädchen bleibt, ist ein Teil von mir, und sie ist nicht allein. Da gibt es noch andere Geschwister in mir, wie Ewa. Allen bin ich tatsächlich im realen Leben begegnet. Sie haben Spuren in mir hinterlassen. Gemeinsam sind sie mein Orchester, spielen die Musik, die ich dirigiere. Aurora mit ihrem hellen Sopran ist die Hauptstimme. Es ist wohl Zeit, auch den anderen Geschwistern mehr Aufmerksamkeit zu widmen und ihre Geschichten zu erzählen.  Auch, um die vielen Nuancen meiner Stimme besser kennen lernen zu dürfen.

Stimme 3

„Wie früher denkt sie. Plötzlich stoppen die Klänge. Das Lachen verstummt. Aurora wird ernst und ein wenig traurig. Eine Erinnerung steigt hoch.“

Der Mond hat sich hinter die Wolken zurück gezogen. Es ist dunkel und feucht.  Aurora fröstelt. Eigentlich sollte sie jetzt aufstehen und in den Bauwagen gehen, um eine Kerze zu entzünden, Tee zu kochen und sich zu wärmen. Aber einen Augenblick möchte sie noch im Moos verweilen und ihren Gedanken nachhängen. Da ist ein Schmerz. Im Zeitraffer geht sie ihren Lebensweg zurück, bis sie wieder 15 ist, fast noch ein Kind. Sie sieht sich und Ewa auf der Mauer vor der Kirche sitzen und Buchenblätter pflücken. Den herben Geruch hat Aurora noch in der Nase. Ewa erzählt von der Schulfete, die in einer Woche stattfinden soll und überredet Aurora mitzukommen. Was Ewa sich in den Kopf setzt, wird durchgezogen. Sie ist ein Jahr älter, als Aurora und geht zum Gymnasium in der Stadt. Ihre hellen langen Haare reichen bis zu den Hüften. Sie sind glatt und seidig und fließen über den Rücken wie ein Wasserfall. Aurora träumt gerne und kann sich nur schwer entscheiden. Das dunkle Haar ist kurz und struppig. Der ganze Körper gleicht einer ungelenken Bohnenstange. Aurora hat Lust mitzukommen auf die Fete, aber befürchtet, dass die Eltern es nicht erlauben. „Keine Sorge, Aurora, ich überrede sie. Ich verspreche ihnen, dass ich auf dich aufpasse.“
„Und was soll ich anziehen? Ich hab nichts Passendes.“  fragt Aurora, denn sie hat nicht viele Klamotten. Die Eltern müssen sparen. „Wir werden sehen Aurora, da findet sich was.“ Und es findet sich etwas.
Ewas neue Schlaghose und der Schlapphut sehen cool aus an Aurora. Und geschminkt hat Ewa sie auch. Ganz anders, fremd sieht sie aus, als sie mit ihren ernsten braunen Agen in den Spiegel schaut. Was sie sieht gefällt ihr. Schnell schlüpft sie in  eine andere Rolle, ist jetzt Claire und kommt aus Avignon. Deutsch kann sie nur ein paar Brocken. Die beiden ziehen los. Für Aurora ist es die  erste Fete. Auf der Tanzfläche toben sich die beiden Mädchen aus. Die Musik ist laut und elektrisierend. Bald schon gesellen sich ein paar Jungs zu ihnen. Auch ohne Alkohol fühlt Aurora sich beschwipst. Ihre Rolle als Claire aus Avignon hält sie durch. Fragen der Jungs muss sie nicht antworten, denn sie kann ja nur wenig Deutsch. Stattdessen lächelt sie. Das Flirten muss sie noch lernen.  Es ist egal, ob ihr die Jungs die Geschichte von Claire aus Avignon abnehmen oder nicht, denn Jungs sind Nebensache. Das Wichtigste ist die Bewegung zum Rhythmus der Musik. Aurora mit ihrer hellen und Ewa mit ihrer dunklen Stimme, singen und grölen alle Songs mit. Total aufgedreht und kichernd kommen sie am Abend zuhause an.

Wo ist Ewa geblieben? Wann haben sich ihre Wege getrennt. Aurora erinnert sich nicht.

Stimme 2

Das Mädchen steht still und wie festgewurzelt auf dem Seil. Der Mond sieht heute so seltsam aus. Fast so, als hätte ihm jemand ein Stück Silber aus dem Leib gerissen. Das Mädchen, nennen wir es Aurora, lächelt , lacht, kann sich nicht mehr einkriegen, so komisch sind die Bilder, die in ihrem Kopf dazu erscheinen: wilde Raubtiermonster, die sich mit weitaufgerissenem Maul auf den Mond stürzen, um ihn aufzufressen.
Beinahe fällt Aurora vom Seil, aber sie fängt sich rechtzeitig auf. Gekonnt ist eben gekonnt. In ihrem Bauch wirbeln winzige Fische und schicken kleine Luftbläschen nach oben Die gleiten an den Stimmbändern vorbei, passieren die Kehle und schicken durch den Mund glasklare Töne in die Nacht. Es hallt weit über Fluss und Wald hinaus. “Zeit vom Seil zu hüpfen,“ denkt Aurora vergnügt, bevor wieder ein Schwall glitzernder Töne aus ihr heraus sprudelt.  Sie hat Spaß an diesem Spiel und hüpft ins weiche Moos. Eine Weile schaut sie Mond und Sternen dabei zu, wie sie Verstecken mit den Wolken spielen und will dann wissen, was ihre Stimme so hergeben kann. Es schnaubt und prustet aus ihr . Mit der Zungenspitze klopft sie rhythmisch an die Mundhöhlenwand. Sie versucht sich an einem tiefen, wilden Grollen und schickt zarte pastellige Seifenblasentöne hinterher. Es kitzelt im Mundraum und sie lacht, hält sich den Bauch vor Lachen, bekommt einen Lachkrampf. Beinahe macht sie sich ins Spitzenhöschen. Wie früher denkt sie. Plötzlich stoppen die Klänge. Das Lachen verstummt. Aurora wird ernst und ein wenig traurig. Eine Erinnerung steigt hoch.

Stimme 1

Wenn ich über Hören,  Singen und Songs in meinem Leben nachdenke, ist das fast immer emotional verbunden mit einschneidenden biografischen Ereignissen.

Stimmen kann ich mir bei flüchtigen Begegnungen besser merken als Namen, erzählt die Stimme eines Menschen mir doch so viel mehr, als viele denken würden. Die Stimme ist wie ein Fingerabdruck und individuell einzigartig.
Es gibt Stimmen, die ich kaum ertragen kann und andere, in die ich mich hineinfallen lassen kann, wie in eine Hängematte unter einem ausladenden Baum im Sommer.

Mit meiner eigenen Stimme  gehe ich streng und stiefmütterlich um. Es fällt mir schwer, meine Stimme auf einer Tonaufnahme mit mir selbst in Verbindung zu bringen. Was ich höre klingt naiv, unschuldig und mädchenhaft. Von der Persönlichkeit dahinter, die einen Großteil des Lebens schon hinter sich hat, vernehme ich nichts. Es scheint so, als hätten Höhen und Tiefen des Lebens  darin keine Spuren hinterlassen. Ich zweifle an dem was ich höre. Welche Filter liegen zwischen  mir und meiner Stimme?  Zeit, mich auszusöhnen  mit dieser Diskrepanz. Ich mag das Mädchen in mir. Es lässt mich jung bleiben und hat trotz vieler Widrigkeiten Hoffnung und den grundliegenden Optimismus nicht verloren. Mein inneres Mädchen ist eine Tänzerin, die den Spitzentanz auf dem Seil beherrscht und mit Buchstaben jongliert.
Heute Morgen, als ich über die verschiedenen Phasen meiner musikalischen Biografie nachdachte, viel mir Andre Heller ein und sein wundervolles Album „Verwunschen“. Ein Lied darauf hat mich besonders berührt: „Das Schnitterlied“, ich möchte es singen, genauer gesagt den Teil darin, den eine Counter-Tenor singt. Wo hat Heller nur diese Stimme gefunden?

„Ein Schnitter kommt gezogen weit aus der Mandschurei. Er hat von Apfelschalen Hosen und Rock dabei. …“ Es passt!

Heute hat sich die Stimme zurückgezogen und ist verstummt. Heute hat sie zu viel gesprochen und zu wenig gesungen. Selbst das Lachen ist auf der Strecke geblieben.  Solche Tage gibt es, nicht nur im November.  Belegt klingt die Stimme, müde und monoton. Auch die Stimmbänder kratzen. Einmal zu oft die Stimme  laut  und schrill werden lassen. So ein Ärger.
Der Schnitter aus dem Lied ist vorbeigezogen und hat sein Tagewerk  auf der anderen Seite des Flusses vollbracht. Nun eilt er mit seiner Sense vorbei, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Ein würziger Hauch von Thymian und Rosmarin zieht hinter ihm her. Auf dem Küchentisch unten häufen sich die Apfelschalen. Es duftet nach Herbst, nach Pilzen und Moder.
Einfach mal schlafen, ausschlafen, denkt die Stimme und zieht sich in ihr Schneckenhaus zurück. Zwischen knorrige Bäume hängt das Mädchen ein Seil auf. Der Mond hat die Wolken beiseite gezogen und den Regen zum Meer geschickt. Hinter dem großen Wald im Norden spielen die Polarlichter am Himmel großes Theater. Das Mädchen ist nicht müde. Es steigt auf das Seil, tanzt darauf, beinahe mühelos, und jongliert mit Worten. Die haben sich in ihren großen Taschen versteckt.  Und da ist noch etwas, ein Wissen, dass ihr Flügel wachsen werden, und sie zu den Sternen fliegen kann, wenn sie nur will. Ein silbernes Band aus glasklaren Tönen wird sie leiten.

Kunst am Ei

Endlich, Antonia hat alles beisammen. Es wird auch Zeit, denn in ein paar Tagen ist Ostern. Sie sitzt an einem Tisch, der mit Zeitungspapier abgedeckt ist. Der Aquarellkasten steht bereit, das Wasserglas und die feinen Pinsel ebenso. In einer Schale liegen ausgeblasene Eier unterschiedlicher Größe. Dieses Jahr konnte sie sogar ein paar Gänseeier  ergattern.  Und neben den braunen liegen auch weiße Eier. Antonia hat sich eine Schürze umgebunden. Auf der Kommode steht die hohe Vase mit den Obstbaumzweigen, die sie vor ein paar Tagen im Garten geschnitten hat, damit daraus der Osterstrauß wird. Einige der Zweige tragen schon kleine grüne Blättchen. Weidenkätzchenzweige stecken auch dazwischen. Sie tragen kleine, flauschige Blüten.  Kurz streicht Antonia über eine dieser Blüten, die nicht umsonst Kätzchen heißen, denn sie  fühlen sich an wie  weiches Katzenfell.

Während ihr Blick auf die Zweige fällt, denkt sie an das Zuhause ihrer Kindheit, an ihre Mutter, die jetzt schon viele Jahre tot ist, an  den Bauernhof, die Tiere,  an das fruchtbare Land, den großen Garten, die Obstwiese und die Walnusshecke, all das ihre Lebensgrundlage, die gemeinsam bewirtschaftet wurde und an ihr Lieblingskätzchen. Auch denkt sie an die Schar ihrer Schwestern und wie sie in ihren jungen Jahren alle zusammen fröhlich in der großen Küche  am Esstisch sitzen und Hühnereier färben. Im Hintergrund dudelt das Radio. In der Küche gab es einen großen Kohleherd, mit dem immer noch gebacken und gekocht wurde, obwohl die Familie inzwischen auch einen modernen Elektroherd mit Backofen besaß.  Der Kohleherd hatte eine Schublade, in der Hefeteig gut und geschützt aufgehen konnte. An diesem Gründonnerstag , an den Antonia gerade denkt, steht kein Hefeteig zum Aufgehen darin, denn gerade dient die Schublade als Wärmekiste für kleine Hühnerküken. Es hatte in jenem Jahr kurz vor Ostern einen heftigen Kälteeinbruch mit frostigen Temperaturen und Schneefall gegeben und die Küken waren gerade  erst geschlüpft. Draußen wären sie erfroren. Also wurden sie ins Haus geholt und aufgepäppelt. Das war ein Piepsen.

Antonia kehrt mit den Gedanken zurück  an den Tisch, der mit Zeitungen bedeckt ist. Sie nimmt ein Ei in die linke Hand. In der anderen Hand hält sie einen feinen Pinsel und beginnt das Ei mit kleinen Aquarellen zu bemalen. Kleine Miniaturen aus der Natur entstehen auf den Eiern. Küken im Gras, kleine Kätzchen, Vogelkinder, Tulpen, Krokusse, Hyazinthen, Vergissmeinnicht, Strauch, Baum,  Blüten und Blatt, Erde.
Antonia liebt diese Arbeit und geht ganz darin auf. Beim Malen vergisst sie die Zeit. Sie freut sich an jedem bemalten Ei und stellt sich vor, wie schön es im  Osterstrauß aussehen wird. Sie malt nicht nur für sich sondern auch für Kinder, Enkelkinder, Verwandte und  Freundinnen.  Als Antonia mit der Arbeit fertig wird, ist es schon nach Mitternacht. Zufrieden und froh spült sie Pinsel, Lappen und Wasserglas.  Jetzt kann es Ostern werden.

Duftveilchen

Duftveilchen

Manchmal ist Ostern schon im März, gerade dann, wenn die ersten grünen Spitzen sich in Hecken und Gebüsch heraus  getraut haben und die Bäume eine grünbraune Aura tragen. Die Zweige beginnen gerade erst zu knospen. Hinter dem Haus ist die Wiese übersäht mit Krokussen, die einen blauvioletten Schleier über das winterfahle Gras legen.  Der Mirabellenbaum trägt einen weißen Spitzenschal aus kleinen Blüten. 
Es ist noch dämmerig, als Antonia den Garten betritt, um ihre Lieblinge zu besuchen. Der Tag ahnt noch nichts von der Hektik, die der ganz normale Alltag mit sich bringen wird. Noch sind ein paar Atemzüge Zeit, um wach zu werden und dem Wachsen zuzusehen. Antonia genießt diese Augenblicke des Tages, die sie ganz für sich alleine hat und in denen sie sich mit ihrer grünen Kraftquelle verbinden kann. Ob wohl die Veilchen schon blühen, fragt sie sich, und eilt zurück ins Haus, um im Vorgarten nachzuschauen. Sie kennt den geheimen und versteckten Platz, an dem sich die Veilchen  klein und verschämt zeigen. Leicht sind sie zu übersehen. Und tatsächlich, sie sind erwacht und haben sich aus der Erde heraus getraut.
An diesem Morgen steht auf dem Frühstückstisch eine kleine Kristallvase im Silbermantel. Behutsam hat Antonia  kleine zierliche Veilchen gepflückt und hinein gestellt. Das Kind mag gar nicht frühstücken. Es hat nur die Veilchen im Blick und kann nicht genug bekommen von dem feinen Duft, den sie verströmen. Ein kleines Wunder, das verspricht: es wird grün, licht und wärmer. Bald ist Ostern und der Sommer nicht mehr weit. Dieser Tag ist ein Festtag und der eigentliche Frühlingsbeginn.
Auch später als das Kind längst erwachsen ist, macht sein Herz jedes Mal einen Freuden- Hüpfer, wenn es irgendwo im Gras die kleinen Veilchen entdeckt.

Zettel 1

Ich neige dazu, mir Dinge auf Zettel zu schreiben, sie zu sammeln und sie zu vergessen, bis ich den Stapel mal wieder sortiere. Was sich so findet: Zettel mit Stichworten, Telefonnummern, Buchtiteln, Sprüchen, Zitaten u.s.w.

Eben fand ich “ …a little bird told me…“

Ja, was erzählt er mir, der kleine Vogel:
“ Raus mit dir aus den verschlafenen Federn, raus, raus, denn du weißt ja, der frühe Vogel fängt den Wurm.“

Ich werde ihm noch ein wenig zuhören.
Hat er dir heute auch schon etwas erzählt?