Lieblingssätze 10

Satz 10

„Die junge Katze, die hier alles zum ersten Mal sieht, sie stand auf der Küchentreppe und witterte lange hinein.“

„Regenkatze“ von Sarah Kirsch (12.9.2003)

Mucksmäuschenstill schleicht sich Ida aus der Schlafetage die Treppe hinunter. Sie braucht kein Licht, findet den Weg blind. Ihre Füße tasten sich vorwärts. Die Erwachsenen dürfen sie nicht hören und sehen. Ida fürchtet, dass Mama schimpfen wird, wenn sie das Kind entdeckt. Es ist dunkel und Schlafenszeit. Im Haus sind die Stimmen erstorben. Nur die Uhr im Flur tickt laut. Aber es riecht so gut aus der Küche, nach Bratkartoffeln und Speck. Ida läuft das Wasser im Mund zusammen. Das späte Nachtmahl ist für die beiden Onkel bestimmt, die nach der harten Arbeit in Feld und Stall großen Hunger haben. Ida findet das ungerecht, sie muss sich abends mit einem Butterbrot begnügen. Heimlich hofft sie, dass in der Pfanne auf dem Kohleherd noch ein paar Schrieben geblieben sind, und die will sie jetzt naschen.

Jetzt hat sie das Ende der Treppe erreicht, ist im Flur angekommen. In der Küche brennt kein Licht mehr. Leise öffnet sie die Tür, geht zum Herd. Und tatsächlich, da ist noch ein Rest vom ausgelassenem Speck. Schnell in den Mund damit, Ida ist selig, und dann wieder zurück ins Bett.

Glück gehabt, niemand hat sie entdeckt.

Vom Vergessen der Dinge

Brigitte wundert sich über diesen sonderbaren Tag. Ob es wohl am Schnee liegt, der sich mit dichten, weißen Wolken und frischen Eisgeruch angekündigt hatte, aber immer noch nicht gefallen ist? Er legt einen Eiszauber über ihre Gedanken.
Frustriert glaubt sie, es sei wohl die logische Konsequenz irdischer Entwicklung, dass die Jahreszeiten nicht mehr halten, was sie versprochen haben.
Im Schneegestöber vergangener Kindertage lässt sich nicht rodeln und aus Pulverschneevisionen kein Schneeball formen. Künstlich beleuchtete Eiszapfen an Dachrinnen hinterlassen einen falschen Geschmack auf der Zunge.
Im letzten Jahr hat sie mit Jens und Kai einen winzigen Schneemann modelliert.  Ein Hauch von Schnee lag damals über dem fahlen Gras im Vorgarten. Den hatten sie abgekratzt.
Die Jungs bestanden darauf, das Schneemännlein im Tiefkühlschrank einzufrieren. Sie gab nach und so konnte es seine erste Stunde erfolgreich überleben.
Wie kann sie ihren Enkeln erklären, was Eisblumen sind, und wie es sich anfühlt, wenn man in frostigen Räumen ohne Heizung mit der Wärmflasche unter das dicke Federbett schlüpft und von der Schneekönigin träumt? Und wie kann sie erzählen wie schwer es ihr als Kind gefallen ist, morgens aus dem Bett zu springen, wenn es so kalt ist,  dass selbst Wasser in der Waschschüssel auf der Kommode fast gefroren ist, aber  wie wunderbar belebend es prickelt und Gänsehaut verursacht, wenn man sich schließlich traut?
Grau und kalt ist die Landschaft heute, hat alle Farben eingebüßt, nur das unschuldige Weiß versagt sich der Stadt.
Brigitte sehnt sich nach dieser weißen Watteverpackung, die alle kreischenden Geräusche verschluckt und die Welt klein macht, die alles versteckt, Ecken und Kanten begradigt und rundet.
Wenn viel Schnee vom Himmel fällt, wird sie wie immer fasziniert am Fenster stehen, um der allmählichen Verwandlung der Landschaft zuschauen.
Am nächsten Morgen dann, bevor der städtische Verkehr boomt, wird alles glatt sein und auf der eisglänzenden Decke werden nur die fein ziselierten Spuren der Vögel zu sehen sein.
Kein Wunder, dass der Schnee ausbleibt, denkt Brigitte bei sich. Die Kinder kennen keine Märchen mehr und die Erwachsenen verloren die Erinnerung an die Schneekönigin im weißen Pelzmantel, die eine Kutsche mit sieben Schimmeln auf den Flügeln des Nordwindes in die Nacht hinein lenkt und dabei unzählige kristallklare Glöckchen läuten lässt.
Auch Frau Holle ist arbeitslos geworden, denn keine Marie lässt mehr die Spindel in den Brunnen fallen. Wer hört dem Flehen des Apfelbaumes zu:  „Rüttele mich und schüttele mich, meine Früchte sind schon längst reif.“  Und wer versteht die Sprache des Backofens noch, wenn das Brot fertig gebacken ist und vor dem Verbrennen gerettet werden möchte?

Die meisten Leute kaufen ihr Brot im Supermarkt.
Was man sich aber nicht mehr erzählt von Winter, Frost und Schnee, von den Märchen und der Magie, entschwindet aus dem Gedächtnis.  Es stirbt. Nur was erinnert wird lebt weiter.


selbstbildnis 4

wo die vergangenheit geblieben ist… versteckt, vergraben, begraben
das kind im dorf auf dem hof erinnert: die pickenden hühner, der hofhund, die großmutter erbsen puhlend oder kartoffelschälend, fetzen, roter bohnerwachs zu mit atta geschrubbtem holz, der duft von wicken im sommer, wenn die kirschen reif sind, gemähtes gras,
dann lange nichts, filmriss…nur manchmal…schält sich aus dem kaffeesatz der zeit etwas nach oben, nimmt fahrt auf, wird überdeutlich.
das vergilben hat nicht stattgefunden…alles wie frisch gewaschen und vom wind getrocknet…perlen auf einer kette, die das gelebte leben zusammen halten und mit dem jetzt verbinden.

Erinnerung an einen Drachen

Etwas veränderte sich in MARIE. Es geschah innen, fand seinen Weg nach außen und blieb den Augen von Claire nicht verborgen. Marie im weißen Hemd auf der sterilen Liege – mit Kabeln am Körper zu den Monitoren an ihrer linken Seite – bewegte sich nicht. Und doch, es war als wehe Wind einen Schauer über ihre Haut. Die Augenlieder flackerten zart wie Libellenflügel.
Claire nahm Maries linke Hand in die ihre und legte schützend die Rechte darüber.
Unter Maries kühler Hand pochte das Blut, und es schien so, als sei da plötzlich mehr Energie, als noch vor wenigen Augenblicken.

Hätte Marie beschreiben können, was in diesem Augenblick geschah, sie hätte erzählt, wie sie den Ausgang der Höhle erreicht und den Drachen, der tief unten wütete, hinter sich gelassen hat. Sie würde erzählen, wie sehr die Sonne ihre Augen geblendet hat, als sie über die Steinmauer klettern wollte, um in die Gärten zu gelangen, ihre Gärten am Meer, die sie so vermisst hatte, und die ihr nun davon erzählten, dass die Rosen immer noch blühen, und dass seit damals nicht wirklich Zeit vergangen ist.
Sie hätte vom Duft der Blumen gesprochen und ein Märchen über die bunten Schmetterlinge und den grünen Leuchtkäfer erzählt. Schließlich hätte sie Claire über die Mauer gezogen, um sich mit ihr unter der alten Kastanie im Moos niederzulassen. Ja, sie hätte sie aufgefordert, mit ihr aus dem Brunnen der Erinnerung zu trinken.

Aber noch konnte Marie nicht sprechen. Der Geist fand nicht den Weg zurück in sein kostbares Gefäß. Allein die Gefühle hinter den Worten, denen in diesem Moment Flügel gewachsen waren, trugen sie dorthin, wo ihre Seele zu Hause war, dorthin wo Heilung wartete: in ihre Gärten am Meer.

Was schreibt man wenn man zufrieden ist?

Zu nächst: Guten Morgen.

Mir geht es gut.

Hm.

Wenn ich Zahnschmerzen habe, Liebeskummer oder ähnliches, da fliegen mir die Worte nur zu. Schmerzerfüllt…dunkel….geheimnisvoll.

Aber jetzt? Was soll ich bloß sagen.

Mir geht es gut.

Ja, ich fühle mich wohl.

Und jetzt?

Was sagt man zu wohlbefinden, zufriedensein ohne großen Höhen und Tiefen?

Blick leer, starre ich auf meinen Bildschirm.

Eigentlich braucht es keine Worte.

Das Bild mit der Tasse sagt doch alles.

Euch einen schönen Tag!IMG-20160222-WA0001

Das GRÜN von damals, Fundstück

Ich fand ein Bild.
das warme Holz einer Langhalslaute verbindet sich mit einem grünseidenem Tuch. Ich sehe ein harmonisches Stillleben. Woran erinnert mich dieses Bild nur?
Ein Erinnerungszipfel erscheint. Vor meinem inneren Auge öffnet sich ein Zeitfenster:

Eigentlich eine ganz andere Situation, ich war vier oder fünf Jahre alt: ein runder Holztisch – Eiche – darauf eine verhüllende gehäkelte Spitzendecke – naturweiß – ein kleine Kugelvase aus Glas steht auf dem Tisch, gefüllt mit duftenden Wicken – eine meiner Lieblingsblumen. Wenn ich an diesen Duft denke, wird mir warm und ich spüre seine positive Wirkung auf mich – und ja, da ist noch etwas anderes, es läßt mich lächeln – die Holzdielen unter meinen Füßen sind frisch gebohnert – ein ganz spezifischer Geruch – und es ist wohltuend still. Durch die relativ kleinen Fenster des alten Hauses flirrt Hochsommerlicht.
Was verbindet das Bild mit der Erinnerung? Ein Stück Nostalgie, die Essenz meiner Kindheitssommer und dieses beglückende Gefühl, geborgen zu sein.

von Ana, Fragment 1

Ana steht vor der verschlossenen Tür. Sie hat sie selbst zugeschlagen, fassungslos vor dem, was sie gesehen und gehört hatte. Schon lange war sie nicht mehr klein, hatte viele Namen ausprobiert und sich nun einen zugelegt, mit dem sie sich wohlfühlte.
Wenn nur jemand sie beim Namen gerufen hätte, damals, sie wäre schneller ans Ziel gekommen.
Mühsam hatte sie den Abgrund zwischen SEIN und SCHEIN irgendwie überbrückt. Die Brücke, schon mehrmals eingestürzt, wieder geflickt und aufgebaut, war inzwischen aus massiven Steinen errichtet, die standfest blieben, auch wenn zwischen ihnen Löcher blinzelten und nicht alle Steine gerade standen.
Eigentlich hätte sie zufrieden sein können. Doch es nagte noch immer, und fraß sich zeitweise durch ihre Haut nach außen. Da waren immer noch Reste. Fragen über Fragen, die nach Antworten verlangten.
Was sie an diesem Morgen in den Abgrund schauen ließ, war die Einsicht, wie einfach es war, Geschichten aus der Erinnerung zu verfälschen. Sie war doch auch dabei gewesen. Ihre subjektive Sicht auf die Geschehnisse war eine andere. Es war ihr bewusst, dass Menschen Erinnerungen beschönigen und verändern, um sich selbst gerade zu rücken oder um vor sich selbst bestehen zu können. Verdrängungsmechanismen funktionierten perfekt. Nur jetzt, war sie zutiefst selbst betroffen. Es ging nicht darum, Recht zu haben, eher darum mit der eigenen subjektiven Empfindung gehört und akzeptiert zu werden. So weit, wie in diesem Fall an einem besonderen Morgen von jemand anderem erzählt, hatte sich eine Geschichte noch nie von ihr selbst entfernt. Das nahm ihr die Fassung.

sich zurück denken

heute will ich klein sein eine weile
und rote götterspeise löffeln
in gedanken will ich
vergangene gärten voll wicken
und stockrosen besuchen
in mein kindheits-schlaraffenland eintauchen
voll duft und licht und getier
und an dem großen holztisch sitzen
der immer samstags geschrubbt wurde
während im radio der landfunk lief
im wohnzimmer die dielen gebohnert wurden
und im backofen streuselkuchen duftete
und ich möchte das licht flirren sehen
im staub der zeit
an den spätsommertagen im alten haus
wenn wochenendstimmung war