Der verletzte Ton

Der Ton war gekränkt und verletzt.
Wie hatte man ihm das nur antun können. Tief ins Innere des Körpers hatte er sich zurückgezogen und eng zusammen gerollt. Niemand sollte ihn mehr finden, jedenfalls nicht heute.
Die Lust, sich unter die anderen Töne zu mischen, um sich mit ihnen zur Melodie zu formieren, war ihm im Augenblick vergangen. Wie hatte man ihn nur so missverstehen können? Er verstand es einfach nicht.
Dicke Tränen kullerten ihm über seine Wangen.
Was war er eigentlich?
Er hatte eine konkrete Vorstellung von sich. Offensichtlich aber sahen die anderen an ihm etwas ganz anderes, etwas, mit dem er sich nicht identifizieren konnte. Die großen Pläne waren zusammengefallen, wie ein Kartenhaus aus Nieten. Nichts war mehr wie es für ihn sein sollte.
So gern hätte er einmal nur auf der Bühne stehen und den Ton angeben wollen. Das wollten die anderen doch auch, und sie nahmen sich dieses Recht einfach heraus.
Vielleicht hätte er nicht erst fragen sollen. Er war aber nun einmal wie er war, immer vorsichtig und etwas zaghaft.
Schließlich hatte er nicht vor, einen Konflikt zu provozieren oder jemanden zu verletzen. Ihm lag viel an Harmonie, besonders in der Melodie eines Liedes.
Aus Erfahrung wusste er, wie es verletzten Tönen geht. Sie klangen schief und schräg und waren so für ansprechende Melodien nicht mehr zu gebrauchen. Niemand wollte Missklänge hören.
Es tat so weh, ausgegrenzt zu werden. Das  Fundament unter seinen Füßen verschwand und er fiel in einen bodenlosen Abgrund.
Schüchtern hatte er an die Türen der anderen Töne angeklopft und gefragt:
„Darf ich heute mal den Ton angeben?“
Ausgelacht hatten sie ihn:
„Du, willst den Ton angeben? Ausgerechnet du? Es gelingt dir ja nicht einmal, einen Ton zu halten. Wie willst du da die anderen zum Einstimmen bringen?“
Da hatte der Ton sich umgedreht und war schweigend gegangen.
Und jetzt saß er versteckt in einer geheimen Nische des Körpers und wollte für heute nicht mehr gefunden werden.

Ein Gedanke zu “Der verletzte Ton

  1. Silbia schreibt:

    Demütigend! 😦
    Für Töne ist es wohl doch wohlklingender, wenn sie nicht zu zaghaft daherkommen.
    Auch die leisen, brauchen Tragfähigkeit zum feinen Klang!
    Man mag im Mut, Freude und vor allen Dingen Atem zusprechen:-)

    Liebe Grüße,
    Silbia

    Gefällt 1 Person

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