Guten Abend Flores,
der Tag neigt sich dem Ende zu – Zeit , um zu lesen und festzuhalten, was der Tag an Gedanken so mit sich gebracht hat. Oder – was ich sehr gerne in den Abendstunden erledige – Briefe beantworten. Ich wäre gern an deinem Meer, würde dort mit eigenen Augen sehen dürfen, wie der Himmel sich in der unendlichen Weite des Ozeans spiegelt und die Grenze zwischen beiden zerfließt. Dieser Raum zwischen Wasser und Himmel, der am Horizont verschmilzt ist doch wie die großen Liebenden, die sich nach langer Suche am Abend endlich gefunden haben, um sich im Morgengrauen wieder zu trennen. Dort liegt ihr Geheimnis, ihre Sehnsucht und die Hoffnung auf Unsterblichkeit. Wie die Vögel werden sie getragen von unsichtbaren Flügeln. Jeden Abend schauen sie aufs Neue hinaus, warten aufeinander und suchen nach einem Hoffnungsschimmer. Ihre Sehnsucht ist wie ein Leuchtturm in der Nacht.
Ich würde nicht satt werden, den Wellen und dem Wind zu lauschen und die natürlichen Lichtspiele auf dem Wasser zu bestaunen. Die Zeit wäre nicht wichtig. Leider lebe ich in der Stadt, weit entfernt von meinem geliebten Meer. Hier sind die Horizonte eng. Nur die Katze auf dem Dach kennt die Freiheit und das Dächergewirr zwischen dem filigranen Schornstein-und Antennendurcheinander. Kein Wunder, dass sich Liebenden hier nur selten finden. Wo sollten sie sich verstecken, wenn balsamische Juninächte locken?
Die Liebe braucht Raum und Freiheit, um zu wachsen und umfriedete Rosengärten für die Zweisamkeit, in denen keine Zuschauer lauern.
Ja, ich war heute lange in meinem Garten. Traurig begutachtete ich die Schäden, die dicke Hagelkörner am Nachmittag verursacht haben. Das sah nicht schön aus. Ich hoffe, sie werden sich erholen, die verbliebenen Blüten. Die Vögel waren verstummt. So ging ich in den Pavillon und schaute nach der chinesischen Nachtigall. Sie sang für mich ein Liebeslied.
Mein Blick folgt jetzt einer Möwe, die am naheliegenden Fluss ihre Heimat hat. Der Fluss strebt zum Meer. Ich schenke ihm meine Gedanken. Die Wellen werden Wassergeschichten daraus weben und das zierliche Gespinst zu dir tragen.
Herzlich, Bela von Rosenhaag