AURORA, die auf dem Seil tanzt 7

10.2.

Hallo liebster Federfreund,

der Nachmittag war schön. Er brachte Sonnenschein und im Licht sahen die verregneten Straßen silbern aus. Ich hängte mein Seil auf und wagte mich hinauf. Was für ein Hochgefühl, wieder oben zu stehen und gekonnt mit der Balancierstange zu jonglieren, aber dann – wieder unten – rutschte die Stimmung in den Keller. Ich kann dir nicht sagen, wodurch es ausgelöst wurde.
Ich bin traurig und dieser Schmerz brandet in mir wie Ebbe und Flut, immer neu, unvorhersehbar, nie gleich. Glaubst du, dass man sich in einem Menschen verlieren kann? So, dass man sich nie wiederfindet? Selbst wenn man glaubt, man hat sich wiedergefunden – und schon jubiliert das Herz – kommt die nächste Welle und schwemmt einen fort.
Ich hatte mich doch längst freigeschwommen. Ich verstehe mich nicht und zürne mir.
Warum bin ich oben auf dem Seil viel sicherer, als unten auf dem Boden. Dort brauche ich ein doppeltes Netz, um den Stolperfallen zu entgehen.
Wirf mir das Netz herrüber, und zieh mich auf deine Insel. Ich möchte ganz oben im Leuchtturm neben dir sein, über das Meer schauen und deine Nähe spüren.

Gute Nacht sagt für heute Aurora

Mit den Delphinen

An einem späten Wintertag, es war ein frostiger Morgen,
kam die große Welle zu mir:
„Komm mit“, raunte sie, „du sollst mein Spielkamerad sein.“
So ließ ich mich forttragen durch die sieben Meere
bis ans Ende von Zeit und Raum.
Sie lehrte mich, alles loszulassen,
mit Fischen und Delphinen zu schwimmen und zu fließen.
Mir wurde leicht zumute, und ich war glücklich.

Versperrte Sicht

In die Schluchten zwischen den verlorenen Stunden hat sich dein Lächeln verloren. Dieses Lächeln, das den Tag hell machte und vom Glücklichsein erzählte. Was ist geschehen Marie, dass ein Absturz dies vermochte? Ich stehe auf dem Leuchtturm hinter dem Horizont und sehe nichts außer Nebel.
Mittendrin bin ich mit mir allein, und während ich noch grübele, warum die Sicht sich mir versperrt, taucht aus der Erinnerung dein Lächeln wieder auf. Es ist noch da – die Wahrheit ist, nichts was war geht für immer verloren.
Es ruht am Grund.
Ich will ein Fischer sein und im Meer meine Netze aus werfen. Vielleicht verfängt sich dein Weinen in meinem Netz und jenseits von Gut und Böse werde ich verstehen.
Es wird seinen Grund haben, dass die Sicht mir nahm, was ich nun in mir finde.

In der Nacht fuhr ich zur See – Marie – und warf meine Netze aus. Stunde um Stunde schaute ich in die Dunkelheit und lauschte dem Plätschern der Wellen an den Planken. Sanft schaukelte das Boot. Ich weiß nicht wie es geschah, aber diese stetigen und gleichbleibenden Geräusche versetzten mich in einen trance-ähnlichen Zustand. Die Nebel um mich herum wurden dichter – fast greifbar, umschlossen mich wie eine Zelle aus Watte.
Und plötzlich hörte ich dein Weinen, nein es war ein Schluchzen und es gesellte sich zu dem Lächeln, das ich auf dem Leuchtturm gefunden hatte und für einen Moment spürte ich deinen Atem.
Freude weckte mich aus dem Dämmerzustand: „Du lebst!“ wusste ich nun. Es zappelte in meinem Netz, fast hätte ich es aus den Händen verloren.
Ich holte es ein und fand einen kleinen grünen König mit Fischschuppenschwanz, dem die Krone in die Stirn verrutscht war.