Der Magier

Der Magier

Ein Kommen und Gehen ist auf den Wegen durchs Leben. Wie viele Türen schließen sich, bevor man die Tür zu sich selber findet und achtsam geöffnet hält? Was die Füße erfassen gibt Halt, lässt Zeit und Raum Schritt für Schritt durchmessen. Zu Recht sind Menschen keine Bäume, die verwurzeln. Sie müssen gehen von Ort zu Ort und sich selbst mitnehmen. Ihre Samen sind die Gedanken, die gesäht an einem Ort, im nächsten – bei anderen Menschen mit neuen Anstößen – zu blühen beginnen und reif werden.
Der Weg, den ich gehe ist unwichtig, wichtig ist, was mir dort begegnet, was ich erlebe und was mich wachsen lässt.

Wurzeln 3

Vom Entwurzeln

Abgründe. Ja es hat etwas Abgründiges, etwas Unauslotbares, dieses Neue, das sich gerade aus dem Nichts zwischen den geraden Linien herausschält. Gestern war alles noch so klar und überschaubar. Gerade Asphaltwege im Morgenlicht ohne wildwucherndes Unkraut an den Rändern. Eben war da noch ein weiter unverstellter Blick auf den Horizont, an dem sich nichts Überraschendes zeigte. Über Nacht hat der Asphalt Löcher bekommen. Er hebt sich an. Da ist eine Kuppe, über die sie nicht hinaus schauen kann. Die Mittellinie hat sich verdreht. Baumwurzeln haben Kraft. An den Seitenrändern, schickt sich die Natur an, Raum zurück zu erobern. Nirgendwo sind Mensch und Tier zu sehen. Sie ist schon lange unterwegs, geflüchtet, weg von dem Ort, der ihre Heimat war. Der Abend naht, und der Weg nimmt kein Ende. Wo führt er hin? Was hinter der Kuppe liegt, kann sie nicht erkennen. Einfach stehen bleiben kann sie auch nicht. Die Beine schmerzen und die Zunge liegt dick und pelzig in ihrem Mund. Sie hat Durst. Die Straße wirkt bedrohlich. Weiter gehen kann sie nicht. Sie wird sich in die Büsche schlagen, um einen anderen Weg zu finden, einen, der sie zu einem Haus führt oder in eine Lichtung. Das Herz beginnt zu rasen. Kalter Schweiß steht ihr auf der Stirn. Was lauert im Schatten der Bäume? Sie versucht sich zu beruhigen, das rasende Herz unter Kontrolle und die Panik in den Griff zu bekommen. Für einen Augenblick lässt sie sich am Wegrand nieder, hält sich selbst umschlungen, bemüht sich mit aller Kraft, das einsetzende Gedankenkarussell zu stoppen und beschwört vor ihrem inneren Auge das Bild. Ein Traum schenkte ihr vor ein paar Tagen dieses Bild. Ein großer, breiter Mann im schwarzen Anzug mit einer Melone auf dem Kopf hält einen moosgrünen Regenschirm über ihren Kopf. Der Mann steht rechts hinter ihr. Er bringt den Geruch nach frischer Pfefferminze und Lavendel mit. Das beruhigt. Sie hebt den Kopf und schaut zur Straße. Mitten im Asphalt, dort wo ein Riss entstanden ist, hat sich die Sonnenblüte eines Löwenzahns entfaltet. Langsam steht sie wieder auf, verlässt die Straße, schiebt mit den Händen zwei Holunderbüsche auseinander, zwängt sich hindurch in den Wald, der ihr wie ein Urwald erscheint. Das Herz schlägt ruhig, die Panik ist vorbei, der kalte Schweiß abgewischt. Sie hat gelesen, dass in alten Zeiten vor jedem Haus ein Holunderbusch stand. Ein mächtiger Schutzbaum für Mensch und Tier. Und irgendwo da im Gebüsch wird eine Quelle sein.

8.10.20

Der Weg durch den Park
grüner wirken die Bäume nach dem langen Regen
Rot zeigt sich im Laub, Gelb weicht zurück
es war noch nicht dran

Auf dem Elektrohochmast
schilpen ungezählte Vögel
so klein von hier unten, schwarze Punkte nur
ob sie sich sammeln für die Reise gen Süden?

Meine Gedanken ziehen  mit dem Wolken weg  vom herbstlichen Augenblick, denken  an einen leise, leise…
der nicht mehr da ist, schon eine Weile und dessen Stimme ich vermisse.

Gemälde in Rot

die einsame Gestalt unten rechts ist bewegt, klebt aber am Fleck
Vor ihr, ein Stück entfernt, links
geht die zweite Gestalt, sich selbst umschlingend
ihr voraus gehen vier angedeutete Gestalten in der Mitte Richtung Morgenrot
Sie folgt mit bedächtigem Abstand

Zu ihnen will sie und dem zukünftigem Tag vertrauen
Die Gestalt hinter sich lässt sie stehen für immer
Ihr Weg ins Morgen ist das Ziel

Ich hatte einen Traum

Es war einer jener Träume, die selten sind und die man nicht mehr vergisst. Diese besonderen Träumen erzählen mir etwas über mich, was ich bis dahin in seiner Komplexität noch nicht begriffen hatte, obwohl die einzelnen Puzzleteile schon lange vorhanden waren. In dieser Nacht war ich im Garten meiner Kindheit, genau an jenem Platz, an dem der Birnbaum mit den kleinen runden Birnen wuchs. Er war nicht besonders hoch, und ich pflückte die Grießbirnen schon als Kind gerne. Ende August wurden sie reif. Sie wurden nicht roh gegessen sondern eingekocht. Erst dabei entwickelte sich ihr unvergleichlicher Geschmack. Niemals mehr habe ich diese Birnen gesehen oder gegessen, nachdem Garten und Birnbaum aus meinem Leben verschwunden waren. Wüsste ich den Sortennamen, ich würde einen solchen in meinen Garten pflanzen. Sofort!
Zurück zum Traum, was hat er mir erzählt?
Mein innerer Ort ist ein Garten, in dem ein Birnbaum steht. Er ist von Hecke oder Mauer umgeben. In der Mitte ist ein tiefer Brunnen. Es ist ein Vorfrühlingsgarten, indem die Knospen beginnen sich zu regen und die Sonne erste zarte Farbtupfer in den Tag malt. Meine Farben sind: buttergelb, puderrosa, helllila, blassblau, zartgrün, silber, weiß und alle Grautöne. Es duftet nach dem letzten Schnee und dem ersten grünen Gras. Es ist eher das Ruhige und Verhaltene, was mich ausmacht. Mein Ziel ist der Weg.
Würde ich mein Lebensmärchen schreiben, alle genannten Facetten müssten darin enthalten sein.
Zurück zum Traum. Dort bin ich zurück gekehrt in meinem Kindheitsgarten, der schon längst verwildert und von (Un)Kräutern überwuchert ist. Trotzdem finde ich dort alle meine Farben und Düfte wieder. Ich weiß, dass ich den Garten an diesem Ort nicht behalten oder neu errichten kann. Aber meine Schwester ist bei mir. Sie nimmt eine Pinzette, pflückt vorsichtig Miniaturen von Kräuter und Blumen und pflanzt sie in eine kleine Schale. Sie drückt mir die Schale in die Hand und sagt: „Nimm sie mit. Und nun geh.“
Jetzt weiß ich, dass ich jene Samen in allen inneren und äußeren Gärten auspflanzen kann, die ich für mich – wo auch immer – noch finden oder anlegen werde. Und an jedem dieser Plätze werde ich neue Sämlinge mitnehmen können um die vorhandenen zu ergänzen und zu erweitern.

Habt ihr vielleicht ein ähnliches Bild im Kopf, dass euch überall hin begleitet und in dem ihr ausruhen könnt, wenn draußen alles zu viel und zu laut wird?

Ein nächtlicher Traum

„Was für ein merkwürdiger Traum.“ denkt Frau Lillac, während Traumfetzen an ihrem inneren Auge vorbei düsen. Sie spürt noch das großartige Gefühl innerer Befreiung, als das Himmelsleuchten am Ende des Traumes in jede Pore ihrer Haut eingedrungen war und sie mit Licht und Liebe bis zum Rand ausgefüllt hatte, bis sie selbst zu leuchten begann. Rundum erneuert, als hätte eine höhere Macht ihren Körper recycelt, so frisch fühlte sie sich beim Aufwachen. Und sie hörte noch die warme, wohltuende Stimme , die in ihr Ohr flüsterte, während ein warmer Wind sie sanft streichelte:
„Ausreisen, du wirst ausreisen.“ prophezeite die Stimme.
Frau Lillac kostet diesen Satz. Er schmeckt süß und hat im Abgang etwas Bitteres.
„Wohin soll ich denn ausreisen? Was meint die Stimme?
Plötzlich denkt sie an MARIE, ihre Freundin aus Kindertagen. An einem Morgen hat diese die Haustüre hinter sich geschlossen, ist zum Hafen gegangen und mit einem Fischerboot aufs Meer hinausgeschwommen. Sie folgte einer Traumstimme, die sie zu einer fernen Insel und einer besonderen Aufgabe schickte. MARIE blieb lange verschollen. Monate später fand FrauLillac sie in der städtischen Klinik wieder. MARIE lag im Koma, aus dem sie als eine Veränderte erwachte. Nie erzählte sie von ihren Erlebnissen auf der Insel, aber eine Weisheit strahlte von ihr aus, die jeden in seine Tiefe zu führen vermochte, der ihr begegnete. Sie sei nicht mehr von dieser Welt, hatten einige Bekannte gemeint.
„Wenn jemand seinem ganz eigenen Weg geht und gegen den Strom schwimmt, wird dieser Jemand nicht immer ein Stück weit sonderbar wirken?“ fragt sich Frau Lillac und springt aus dem Bett.
Die gewohnten Gedankengebäude zu verlassen, über den Tellerrand zu hüpfen wäre eine Art Ausreise für sie. Wolte sie das nicht schon lange?

gegen den puls der zeit innehalten…

kornblumenblau, mohnrot am rande von feldern mit wiegenden ähren wolken, die über eine kuppe in den bilderbuchhimmel klettern und schweigend weiter ziehen, während lerchen singen, spatzen schilpen der wind in den bäumen säuselt, während schwalben fallen und steigen
was mich berührt ist der weg eine furche, durch die ich schreite die mich leitet zu unbekannten zielen, ein zeitfenster, in dem ich sein kann , ohne angst den boden unter den füßen zu verlieren

Selbstbildnis 2

Ein bisschen bin ich aus der Übung, aber das wird schon wieder!

Wilfried Fink: „Heilen muss einzig die Illusion, wir seien voneinander getrennte Wesen.“

Ich versuche mir vorzustellen, wie das ist, sich verbunden mit allem zu fühlen und merke schnell, dass mir das mit dem Denken nicht gelingt. Das Denken verschärft das Gefühl des Getrenntseins. Ich muss es wohl spüren und fühlen. So konzentriere ich mich auf mein Herz, lasse es licht und weit werden, aus mir heraus und über mich hinaus wachsen. Plötzlich kommen die Bilder.
Ich sehe mich in einem Kreis aus Licht, der von feinen Tentakeln umgeben ist. Ich spüre damit in den Raum hinein zu den Blumen und weiter wachsend durch die Türe hindurch in die anderen Räume hinein.
Dort schlafen die restlichen Familienmitglieder. Ich fülle das Haus aus, wachse weiter, durch die Haustüre hindurch, zu den Bäumen und Pflanzen draußen, in die anderen Häuser hinein mit allen Menschen und Tieren.
Hier lebe ich und alles atmet im gleichmäßigen Rhythmus: die Erde, der Himmel, die Menschen und Tiere, die Pflanzen, der Wind.
Weiter wachse ich über die Grenzen der Stadt, des Landes, über Alpen und Meer – alles nehme ich auf, mit allem atme ich ein und aus, die Dunkelheit der Nacht trägt mich bis ich die ganze Erde in Licht und Liebe hülle.

Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, was ich tu, ob ich bin oder etwas in mir ist. Zeit und Raum sind aufgehoben. Es gibt keine Grenzen. Alles ist gleichzeitig. Nur das Pulsieren in und mit allem bleibt, ein Heben und Senken:  der Herzschlag und der große Atem, Ebbe und Flut, Gezeiten; Wind und Orkan.

Ich glaube, es ist ein Weg, der einmal begonnen, sich im Bewusstsein Raum schafft, Türen öffnet, die Sensibilität für Ausweitung und Grenzüberschreitung (über sich selbst hinaus) schult und stärkt. Die Kraft der Visualisierung wächst durch Übung.