Trau dich…es gibt nichts zu verlieren 3
Ilya verstaute Reiser und Eier in ihren Jackentaschen, erhob sich und setzte sichtlich erschöpft ihren Weg fort. Am Rande einer Wiese legte sie sich eine Weile ins Gras und schaute in den beinahe wolkenfreien Himmel. Die Nacht würde sternenklar und frostig werden. Sie brauchte einen geschützten Platz, um zu schlafen. Seufzend stand sie auf, schulterte ihr Gepäck und setzte den Weg fort. Wohin er sie wohl führen würde? Etwas später gabelte sich der Weg. Ohne nachzudenken bog Ilya nach rechts ab. Hier wurden die Bäume und Sträucher dichter, wirkten weniger zerrupft. Diese Pflanzen hatte der Sturm wohl nur gestreift. Ilya folgte dem Weg bis es beinahe dunkel war und sie plötzlich vor einer schiefen Hütte aus Holz stand. Die Tür war aus den Angeln gerissen und hing schief vor dem Eingang. Eine Art Leuchtschrift blinkte Ilya entgegen: „Trau dich…es gibt nichts zu verlieren. Ilya holte die kleine Taschenlampe aus dem Rucksack und leuchtete in die Hütte hinein. Sie sah eine Pritsche aus Holz, darauf ein paar Stapel Decken und einen kleinen Tisch auf dem Wasser, Käse und Brot standen. Ilyas Magen knurrte. Erst jetzt spürte sie, dass sie Hunger und Durst hatte. Es blieb ihr auch keine Wahl. Es war draußen vollkommen dunkel. Nur ein paar Sterne leuchteten blass. Notdürftig zurrte sie die Türe vor den Eingang, um ein wenig geschützter zu sein. Sie richtete ihr Nachtlager, trank Wasser und verspeiste Käse und Brot. Entspannter jetzt ließ sie sich auf das Lager fallen und kuschelte sich dick in den vorhandenen Decken ein. Die Augen fielen zu, eine Art Frieden machte sich in ihr breit. Nicht denken, nur nicht denken, das wollte sie nicht. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Atem. Das regelmäßige Ein und Aus ließ sie schnell in einen traumlosen Schlaf gleiten.
Erfrischt erwachte sie am nächsten Morgen, bereit die Reise fortzusetzen, wohin auch immer ihre Schritte sie führen würden.
Sie verspeiste ein paar Äpfel aus dem Rucksack, verstaute die Hilda-Kastanie griffbereit in der Jackentasche und steckte stattdessen den Reiser in den Rucksack. In der anderen Jackentasche tastete sie nach den blauen Eiern. Sie fühlten sich warm an und pulsierten leicht. Entschlossen verließ sie die Hütte, schaute in den Himmel, über den dicke graue Wolken jagten. Ein kühler Wind spielte mit Ästen, Zweigen und dem Gras und mit dem Haar auf Ilyas Kopf. Sie ging nun an der Hütte vorbei in ein Waldstück, in dem Fichten und Tannen gebrochen oder entwurzelt waren. Ein paar der noch unbelaubten Bäume hatten dem Sturm getrotzt. Ein Eichhörnchen huschte an einem Stamm empor. Vereinzelt hüpften kleine Vögel in den übrig gebliebenen Bäumen. Ilya nahm alles wahr und speicherte es in ihrem Kopf. Das Chaos war groß, doch sie wusste, dass hier bald schon neue Pflanzen und Bäume das Terrain erobern würden. Nichts blieb wie es war. Es würde anders werden. Moos und niedriges Gras krallten sich an Erde und Steine. Ihnen hatte der Sturm nichts anhaben können, auch nicht dem verborgenen Pilzgeflecht unter der Erde und den kleinen Buschwindröschen, die zwischen bloß gelegten Wurzeln, abgebrochenen Zweigen, Zapfen und alten Blättern zu wuchern begannen. Vorfrühling lag in der Luft und ab und zu brach eine Sonnenstrahl durch die dichten Wolken. Es roch modrig, aber da war auch ein Hauch von grasgrüner Frühlingsfrische am Rande. Es mochte später Vormittag sein, als Ilya einen sich an den Baumreihen entlangziehenden Bauzaun erreichte. Da war eine blaugelbe Tür. In schwarzen groben Buchstaben darüber der übliche Spruch: „Trau dich…es gibt nichts zu verlieren!“
Blauäugig öffnete Ilya die Tür und betrat einen neuen Raum. Auf das, was dort auf sie zuströmte war sie nicht gefasst.