Damals, als ich es zum ersten Mal sah…

 

Ich, Marie, erinnere mich. Genau auf diesen Polstern hier im roten Salon saß ich vor langer Zeit mit dir. Es war im Herbst. Auf dem niedrigen Tisch zu meinen Füßen stand eine Schale mit duftenden Äpfel, und am Fenster brannte ein siebenarmiger Leuchter mit haselbraunen Kerzen. Es duftete nach Bienenwachs und Orangenschale. Ich hauchte einen Sonnenkuss in dein ergrautes Haar. Zeiten kommen, Zeiten gehen! Ich bin nicht mehr die, an die du damals dein Herz verloren hast. Einst, mein Liebster, war in deinen Augen das lichte Meer. Ich fiel hinein und vergaß die Zeit in dieser graugrünen Unendlichkeit. Dort lag ich auf dem Rücken und ließ mich tragen. Kein Schrecken, weder Angst noch Sorgen, kein Schmerz warteten am Horizont. An jenem Tag, als ich einen Sonnenkuss in dein Haar hauchte, waren deine Augen ein stürmisches Meer. Bedrohliche Schatten wuchsen am Horizont und die Wellen peitschten hoch.
Pass auf, dass du nicht zerschellst mit deinem Boot im Lebensmeer, flüsterte ich gleich einem zärtlichen Wind.
Du bist gegangen ohne ein Wort, und ich lief in den Garten und vertraute Frau Hulda, dem Holunderbusch, meine Tränen an. Es ist lange her. Wo steh ich jetzt?

Fazit am Abend 1

Sind Regentropfen Tränen
die gesammelt in den Meeren
steigen hoch mit ihren Klagen?
lassen wütend regnen
des einem Fluch, des anderen Segen

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Frag mal die Wolken, wessen Klagen endlos Tränen weinen
Triefend nass steht bald Frau Leid in einer Pfütze vor der Tür
will keinen Sommer mehr ertragenmit Farben, Licht und Sonnenschein

Die Freude ist ihr ausgegangen
Nun will sie nur noch Dauerregen

STERNENSTAUB

„Sternenstaub!“ hatte jemand gesagt an einem Abend, nachdem gerade die Sonne untergegangen und der Mond im Zwielicht zwischen Tag und Nacht noch nicht erschienen war.
„Aus Sternenstaub sind wir.“
Da war sie wieder, die Stimme. Marie lauscht und späht zum Fenster hinaus. Sie sieht nichts. Woher ist die Stimme gekommen? Marie erfasst, dass die Stimme aus ihr selbst gekommen ist. Vor langer Zeit hat ihr jemand diesen Satz gesagt. Gefühle steigen hoch, traurige, denn die Stimme gehörte jemandem, der schon eine Weile aus Maries Leben verschwunden ist.

„Ebbe und Flut.“ denkt Marie. „Immer die Gezeiten, die im Blut nachwirken.“
Es war lange Ebbe gewesen, das heißt, Marie hatte nicht an ihn gedacht und so die schmerzlichen Gefühle von sich ferngehalten. Jetzt aber ist wieder Flut. Es brandet und mit der Brandung steigen Schmerz, Angst, Sehnsucht, Verlangen und das Gefühl vollkommener Einsamkeit in ihr hoch. Die Kehle wird eng, Druck liegt auf dem Magen, Tränen steigen in die Augen.
„Wann nur,“ fragt sich Marie, „hört das auf.“
Marie schlüpft in ihr Bett und zieht die Bettdecke über den Kopf. Ganz nah zieht sie die Knie an die Brust. Sie weint und schluchzt wie ein Kind, das sich verlassen fühlt. Sie wiegt sich hin und her, als sei sie ihre eigene Mutter. Es dauert lange, bis das Weinen verebbt und ein letzter Schluchzer sich aus der Kehle befreit.
Die Wellen sind jetzt ruhig. Über dem Wasser glitzert der Mond.
Marie steht auf und wäscht sich das Gesicht. Sie schaut in den Spiegel, der über dem Waschbecken hängt. Die Augen sind rot. Jetzt will sie schlafen, nur noch schlafen, denn die Gefühlsgezeiten haben ihre ganze Kraft gekostet. Sie lächelt sich zu. „Ja, aus Sternenstaub sind wir gemacht und zu den Sternen kehren wir zurück, irgendwann.“