Spurensuche, Claire sucht Marie 6

Liebe Marie,

etwas erstaunliches ist geschehen: heute Morgen war ich so unruhig und ganz hoffnungslos – wie soll ich auch die Stecknadel im Heuhaufen finden – und jetzt, nachdem ich ein wenig geschlafen habe, gehts mir viel besser. Ich träumte vom Meer. Es war warm und smaragdgrün. Ich schwamm weit hinaus und sah eine rote Insel – schemenhaft zeichnete sich eine dunkle Bergkette ab. Plötzlich war eine Nixe neben mir. Sie flüsterte mir ins Ohr: „Finde Clarisse.“

Ihre Stimme war perlend und hell, wie eine unterirdische Quelle und die grünen Haare ringelten sich wie frisches Seetang um ihren schmalen Kopf. Ich wollte weiter schwimmen, aber sie griff an meine Schulter und gebot mir, zurück zu kehren aus meinem Traum.
Ich bin aufgestanden und in die Küche gegangen. Dort in der Schublade oben rechts, das weiß ich noch, liegt dein grünes Adressenbuch.

liebe Grüße, Claire

Spurensuche, Claire sucht Marie

Tag 1

Liebe Marie,

ich werde mich in deine Wohnung begeben. Dort mitten im Wintergarten findet sich die Hängematte. Oft haben wir zusammen darin gelegen – Seite an Seite. Wir haben uns aufregende und fantastische Geschichten  erzählt von warmen fernen Ländern, von Flaschengeistern, Wassernixen und Korallenriffen. Unsere Haare vermischten sich, während wir flüsternd kicherten. Manchmal döste ich ein, und du wecktest mich mit Kaffee und diesem besonderen Gebäck. Weißt du noch, viel Schokolade war darin und ein Hauch von Orange.

Wir hatten Zeit. Uns gehörte noch die ganze Welt, und wir waren unzertrennlich. Zwischen uns gab es kein Geheimnis. Mit leuchtenden  Kerzen und leiser Musik läuteten wir den Abend ein, feierten den Tag. Manchmal blieb ich bis morgens – schlief in der Hängematte. Inselträume zogen wie Karawanen durch meine Nacht. Und immer – bevor ich einschlief – streicheltest du mich sanft, so wie nur eine Freundin es kann – Ersatz für eine Mutter, die ich nie gekannt hatte – und du hast vorgelesen. Deine Stimme klingt immer noch in meinen Ohren. Wusstest du damals schon, dass etwas besonderes auf dich wartet?

Ich will dich finden, Claire

Ich gehe und glaube

In  das graue Einerlei mit den weinenden Himmeln
will ich türkisfarbene Horizonte zeichnen
und Wellen goldene Schaumkronen aufsetzen
in die leeren Muscheln vergessener Strände
lege ich rosa Perlen, die von innen leuchten
auf dem Weg zwischen heute und morgen
sehe ich Verworrenes sich  entflechten
Verknotetes gibt nach und löst sich aus der Erstarrung
aus dem Nebel schälen sich Konturen
und winzige Spuren von Farbe, die sich ausbreitet

Spiralförmig will ich mich hinaus schrauben aus vergangenen Tagen
die ihren Glanz nicht länger verborgen halten wollen
Du kannst wählen:
Mitgehen oder Dableiben, Glauben oder Zweifeln

Hinter den Hecken

es ist stumm hinter den hecken
in diesen tagen
die noch winter tragen
und den frühling ahnen lassen
weich segeln wolken am himmel
der täuscht in seinem blauen gewand

auf dem verwaisten platz in der mitte
noch spuren vom magischen kreis
dort
wo das ICH mit dem DU
einst flüsterte und raunte
verflochtene zweige nur
und dornen, die blicke abweisen
um ihr geheimnis zu wahren

Über dem kahlen Geäst…

Über dem kahlen Geäst
reihen sich Wolken dicht an dicht
es hat weder Tag noch Nacht
dem Winter hellen Schnee gebracht
unter den Bäumen im Gras
malt der Frühling schon Spuren
und in den dunklen Schatten
spazieren Amseln eifrig und flink
es ist noch Zeit zum Reifen und Wachsen

Die tiefen Falten auf deiner Stirn
haben bessere Tage gesehen
Rosarote Brillen verrutschen
wollen den Blick nicht mehr versüßen