Wurzeln 8

Kindheitsspuren (1)

Die roten Schuhe

Das Dorf war klein, eingebettet zwischen Wald, Feld und Wiesen. Hier kannte jeder jeden. Erwachsene Bewohner wurden von den Kindern Tante und Onkel genannt. Hier blieb nichts verborgen und geheim, fast nichts.
Die kleine Christine, gerade fünf Jahre alt, lief wie fast jeden Morgen an der Hand von Mama durchs Dorf. Heute sollte es in die Wiesen gehen, um Feldblumen für die Fronleichnamsprozession zu sammeln. Christine liebte es, wenn Blumenteppiche auf die Straßen gelegt wurden, Heiligenhäuschen festlich mit Blumen, Kerzen, Silber und Leinen geschmückt wurden und überall die gelb-weißen Fahnen flatterten. Und wenn der Herr Pastor mit der Monstranz über die Teppiche schritt und hinter ihm die Messdiener mit den Glöckchen klingelten, dann wurde alles ganz feierlich. Selbst die Lieder, die gesungen wurden, fielen ganz tief ins Herz. Manchmal musste Christine schlucken und ein paar Tränen wegdrücken.
Auf dem Weg hinaus aus dem Dorf kamen sie an dem kleinen Schuhladen von Onkel Franz vorbei. Vor dem Schaufenster blieben die beide stehen. Mitten darin erblickte Christine die schönsten Schuhe, die sie je gesehen hatte, rot, aus Lack und mit Schleifchen verziert. Vor ein paar Tagen hatte Mama gesagt: „Du brauchst neue Schuhe Christine. Die alten sind dir zu klein.“. Daran erinnerte sich das Kind.
„Mama, die da, die roten mit der Schleife, die möchte ich haben. Kaufst du sie mir?“
„Ach Kind, ich weiß nicht so recht. Die Schuhe sind zu fein für Hof, Wiese und Feld. Die kannst du nur an Feiertagen tragen. Du brauchst aber Schuhe für jeden Tag.“ antwortete Mama. „Wir fragen deinen Papa.“
Papa war aber nicht da. Er war wieder weg und Christine wusste nicht, wann er wieder nachhause kommen würde.
„Er arbeitet in einer anderen Stadt und kann nicht so oft zu uns nachhause kommen.“ hatte Mama ihr erklärt. „Hier im Dorf gibt es keine Arbeit für Papa, deshalb geht er auf Montage:“
Christine wusste nicht was das sein sollte, Montage, aber sie fragte auch nicht. Es wurde darüber nicht geredet.
Mit Mama und den Geschwistern wohnte Christine auf dem Bauernhof bei Oma. Zwei Brüder und zwei Schwestern von Mama wohnten auch dort. Und alle paar Wochen kam Papa. Alle Erwachsenen arbeiteten zusammen auf dem Hof.
„Mama, darf ich die roten Schuhe haben?“ fragte Christine am Abend vor dem Schlafengehen ihre Mama.
„Nein, Kind, dafür reicht das Geld nicht. Du brauchst vernünftige Schuhe.“

Beim Einschlafen dachte Christine nur an die roten Schuhe. Sie stellte sich vor, sie sei eine Prinzessin. Die Schuhe passten wunderbar zu dem hübschen Spitzenkleid.  Und sie passten wie angegossen. Nichts drückte und schnürte ein. Wie es wohl wäre auf dem Schützenfest darin zu tanzen, wenn die Kapelle zu musizieren begann? Christine liebte die Bewegung zur Musik. Am liebsten drehte sie sich so lange um sich selbst, immer schneller und schneller, bis ihr ganz schwindelig wurde. Dann ließ die sich fallen und genoss, dass sich alles um sie herum drehte und die Bewegung langsam abebbte. Heimlich machte sie das öfter in der großen Küche, wenn gerade keiner da war. Darüber schlief Christine ein.
 Im Traum sprachen die Schuhe zu ihr: „Wir warten auf dich. Komm uns holen. Wir sind nur für dich gemacht.“
Und schon spazierten sie zum Schaufenster hinaus über die Straße und zum Haus, in dem Christine wohnte. Dort klopften sie an die Tür, aber niemand hörte sie. Nur Christine.
 Das Mädchen stieg aus dem Bett, schlich die Treppe hinunter zur Haustür und öffnete sie. Oma hatte wohl vergessen sie abzuschließen.
Die Schuhe spazierten in den Hausflur hinein und sprangen an Christines Füße, und schon drehte sich das Kind wie von selbst. Immer schneller und schneller, bis ihm schwindelig wurde und es sich fallen ließ.
Ein kleiner Sonnenstrahl kitzelte Christine am Kinn. Zeit zum Aufstehen. Das Kind sprang aus dem Bett und wollte in die roten Schuhe schlüpfen. Die waren aber nicht da. Traurig ging das Kind in die Küche zum Frühstück an dem langen Holztisch. Nur Tante Olga war da.
„Warum schaust du denn so traurig, Kind? Hast du schlecht geträumt?“
Da erzählte Christine der Tante von den roten Schuhen, dem Kummer und ihrem Herzenswunsch, auch dass sie in der Nacht von den Schuhen geträumt hatte, und wie gern sie diese Schuhe haben wollte.
„Komm mal zu mir auf den Schoß, Kind. Ich erzähle dir die Geschichte von den roten Schuhen.“
Christine kletterte auf Tante Olgas Schoß und hörte zu.
Im Märchen wollte ein Mädchen unbedingt rote Schuhe haben. Es flehte und quengelte so lange, bis die Eltern ihr die Schuhe kauften. Sofort zog das Mädchen die Schuhe an und tanzten mit ihnen aus dem Haus hinaus, über die Dorfstraße an der Schule vorbei und in die Kirche hinein. Von dort weiter in den Wald, weit weg vom Dorf. Sie tanzten und tanzten und hörten nicht mehr auf. Sie tanzten immer weiter, bis das Mädchen ganz erschöpft und verzweifelt versuchte, sich die Schuhe von den Füßen zu reißen. Schließlich sah sie keine andere Möglichkeit als zum Henker zu gehen.
„Hack mir die Füße ab, damit ich nicht mehr tanzen muss.“
Der Henker tat was von ihm verlangt wurde und hackte ihr die Füße ab. Die aber tanzten mit den roten Schuhen immer weiter und davon.

Später als Christine erwachsen war, dachte sie oft an diese schreckliche Geschichte. Trotzig beschloss sie, immer ein paar schöne rote Schuhe im Schuhschrank zu haben. Und dieses Versprechen hat sie bis heute gehalten.

26.10.20

Was mich berührt

1.
Der Ahorn hochlodernd
eine gelbe Flamme im Licht
der wilde Wein ein roter Zauber
im Hintergrund
2.
Das kleine Blatt auf der Mauer
zart und fein gefiedert
nur noch die Rippen haben Bestand
und ein Rest vom Gelb dazwischen
3.
Die Mauer mit dem verblassten Anstrich
der abblättert und Hintergrund ist
für Efeu und das Rot des wilden Weines

Hochauflodern möchte ich im Sonnenlicht, für etwas brennen auf meine alten Tage.
Und wenn meine Struktur sich unverschleiert nach außen zeigt, weil mein Fleisch sich verflüchtigt, dann soll sie filigran sein und dennoch stark. Wo Narben und Falten mich zeichnen, soll mein Licht bleiben und wie das Leuchten vom wilden Wein sein im Herbst.   Wenn ich dann irgendwann loslassen muss oder darf, möchte ich zur Erde schweben wie ein Blatt im Wind und wieder zu Erde werden.

8.10.20

Der Weg durch den Park
grüner wirken die Bäume nach dem langen Regen
Rot zeigt sich im Laub, Gelb weicht zurück
es war noch nicht dran

Auf dem Elektrohochmast
schilpen ungezählte Vögel
so klein von hier unten, schwarze Punkte nur
ob sie sich sammeln für die Reise gen Süden?

Meine Gedanken ziehen  mit dem Wolken weg  vom herbstlichen Augenblick, denken  an einen leise, leise…
der nicht mehr da ist, schon eine Weile und dessen Stimme ich vermisse.

Gemälde in Rot

die einsame Gestalt unten rechts ist bewegt, klebt aber am Fleck
Vor ihr, ein Stück entfernt, links
geht die zweite Gestalt, sich selbst umschlingend
ihr voraus gehen vier angedeutete Gestalten in der Mitte Richtung Morgenrot
Sie folgt mit bedächtigem Abstand

Zu ihnen will sie und dem zukünftigem Tag vertrauen
Die Gestalt hinter sich lässt sie stehen für immer
Ihr Weg ins Morgen ist das Ziel

Lucia, die Lichterkönigin

der tag war vorbei geschlichen. kaum bemerkt schlängelte es sich durch sekunden, minuten und stunden.
wenn ich mir vorstelle, der tag sei eine schlange gewesen, so trüge er einen langen durchsichtigen körper mit einzelnen pulsierenden roten flecken, die wie ein mund immer auf und zu gehen, um alles in sich aufzunehmen in den hungrigen leib.
“aber mama, ein tag kann keine schlange sein” mahnt die kleine jenna und hebt den winzigen zeigefinger.
“aber natürlich kann der tag einer schlange gleichen, mein kind!” sgt die mutter und erzählt weiter von der schlange, die sich in den traum schleicht, farben anlegt und wie ein regenbogen glänzt. auch einen giftzahn besitzt sie, aber nur zur zier, und um eventuelle monster zu erschrecken.
“und weißt du was, jenna, morgen früh, wenn du aufgewacht bist und den kakao ausgetrunken hast, dann holen wir papier und wasserfarben. dann malen wir lange bunte kringelschlangen.”
“oh ja, das machen wir.” und jenna hüpft eine runde durch den raum, in dem die mutter gerade die zweite kerze des adventskranzes angezündet hat.
“mama, können wir die schlangen in den weihnachtsbaum hängen?”

FISCH SEIN

(nachgetragen zu „Stimmung zwischen den Zeiten“)

Ach wäre ich doch ein kleiner roter Fisch.
Dann würde ich durch den nassen Tag schwimmen und mit den Regentropfen um die Wette laufen. Ich würde in verbotenen Tümpeln nach Köstlichkeiten tauchen, in die Wolken springen und darin genüsslich baden. Und auf den grauen Asphalt, der sich unter dem tiefen Himmel ins Unendliche weitet, würde ich glitzernde rote Schuppen streuen.
Wäre ich ein Fisch, dann wäre heute ein Glückstag und ich putzmunter in meinem Element.