Aurora, die auf dem Seil tanzt 9

23.2.

Liebster Traumtänzer,

ich muss dir noch ganz schnell etwas erzählen: eben traf ich eine Kollegin. Sie nennt sich „Seiltänzerin der Nacht“. Endlich mal jemand, der sich auch aufs Hochseil traut ohne Netz und doppelten Boden. Ach, mein Seelenfreund, wie ist die Welt von da oben schön. Der Himmel ist nah. Ich bin versucht, die Sterne wie goldene Äpfel vom Himmelszelt zu pflücken. Möchtest du einen haben? Ich teile gern! Ich könnte mit ihnen natürlich auch auf dem Seil jonglieren. Hm? Ich sehe dich nicht mehr. Mein Herz ist bekümmert. Über dem Ozean hängt seit gestern Nebel. Die Möwe Jonathan und der Rabe Jasu leisten mir Gesellschaft.
Ich bin so unruhig, kann nicht eine Minute mehr still sitzen. Ich will mein Bündel packen und aufbrechen gen Süden. Wenn du am Strand bist, grüße das Meer und die Wellen von mir, ja? Ach wärest du doch eine Weile hier bei mir – könnte ich nur wirklich ein paar Worte mit dir sprechen.

Ich sehe dich nicken – eine ganz liebevolle Umarmung schickt die deine Aurora

Zu den Sternen

Wölfin, wirst du bei mir bleiben, wenn die Sterne an Macht gewinnen, ich ihnen entgegen strebe und der Erde entfliehe? Dein warmes, wildes Fell soll mir Halt sein. Die Gedanken sind meine Flügel und die Fantasie schmückt mich mit bunten Federn. Das Herz ist der Motor und der Geist Antrieb und Motivation.
Wohin auch immer – weit, weit über den Horizont hinaus. Das Land hinter den Sternen wird mich Fülle erinnern lassen und mir die Rückseite des Mondes zeigen.

Die Sterne hatten wieder an Macht gewonnen, denn es war Winter und  der nächtliche Frost kleidete die Welt in Glitzern, ein blaues Glitzern, das dem Tag etwas Unwirkliches, etwas Unwirtliches verlieh und dennoch an Anziehungskraft stetig gewann. Immer schon hatte sie die Schwerkraft der Erde überwinden wollen, um den darüber liegenden unendlichen Raum erobern zu können.  Ein Frösteln wanderte über die Haut und die Sehnsucht nach einem warmen Fell, das nach wildem Tier roch und Wärme ausstrahlte, erinnerte sie daran, dass sie noch hier bleiben musste.
Den Traum hatte sie nicht vergessen. In ihm wanderte sie in einem sterbenden Wald über Schnee und Eis. Sie suchte etwas, jenseits dieser kalten Welt mit ihren todbringenden Gefahren. Als sie daran  fast verzweifelte, weil sie glaubte, sich verirrt zu haben, da war die weiße Wölfin neben ihr an der rechten Seite und leitete sie auf den richtigen Weg zurück. Und ein schwarzer Rabe flog auf ihre linke Schulter und krächzte ihr Mut zu.
Es war nur ein Traum, aber einer, der so dicht und lebendig war, dass sie die Tiere intensiv bei sich spürte, das Gewicht des Raben auf der Schulter wahrnahm. Eine Feder kitzelte ihr Ohr. Und der Wolf ging so dicht neben ihr, dass sie seine Wärme spürte und den Raubtiergeruch in der Nase hatte. Kleine Atemwolken entließen Mund und Schnauze. Gleichzeitig wusste sie, dass diese Tiere ihre Kameraden waren, nicht ihre Feinde, die immer dann da sein würden, wenn sie ihrer Hilfe bedurfte. Wie jetzt.
So rief sie nach ihnen, sang das Wolfslied, rollte tiefe Töne aus ihrer Kehle heraus, zischte in den Wind und summte ein Wiegenlied in den Tag. Und da waren sie. Lichte Gesellen, die sie auf die Erde zurück holten und den hinauseilenden, flüchtenden Gedanken, mit denen sie davon stieben wollte, Einhalt geboten.
Jetzt war Jetzt, jede Sekunde eine Herausforderung, die sie annehmen konnte, was auch immer der Tag in seiner eisigen Schönheit noch bringen würde. Die Sterne würden warten müssen, denn die Zeit war noch nicht reif.