Lieblingssatz 23

„Wer ein Notizbuch mit sich führt, hat immer einen Freund zur Seite.“

(„Wunder warten überall“von Stefan Weigand)

Ich besitze viele Notizbücher, für jedes Projekt ein eigenes und auch eins für schöne Sätze und Worte. Wieder ein anderes hält Morgengedanken fest. Ein weiteres speichert Träume. Ich könnte diese Liste fortsetzen. Ohne meine vielen Notizbücher würde mir etwas fehlen. Wenn ich mich in Mußestunden manchmal zurücklese in ihnen, dann bin ich überrascht, was sich dort alles findet und wiederfindet. Die äußere Erscheinung dieser kleinen Bücher ist sehr unterschiedlich, denn es fällt mir schwer, an schönen Kladden oder Notizbüchern vorbeizugehen. Es gibt auch lose Blattsammlungen, notdürftig zusammengehalten und alte Schulhefte, denen ich einen hübschen Einband verpasst habe. Einige von ihnen sind richtig zerfleddert. Diese Zerzausten habe ich besonders lieb. Alle zusammen sind wie ein Kaleidoskop. Sie erzählen etwas über mich, meine Innenwelt und Fantasie und sagen etwas über meine Einstellungen. Ich hoffe sie überleben meinen Tod und dienen Kindern und Enkelkindern als kreative Fundgrube und Erinnerung an mich.

Spurensuche, Claire sucht Marie 7

Liebe Marie,

 

ich habe das grüne Notizbuch gefunden und tatsächlich, da findet sich Clarisse – smile – sie wohnt ja gar nicht weit von hier. Ein paar Schritte um den Häuserblock und schon stehe ich vor ihrer Tür. Vielleicht hat sie etwas von dir gehört. Warum hast du sie mir nie vorgestellt? Nur einmal sah ich sie von weitem an deiner Seite. Es war in dieser schrecklichen Zeit, als wir den Streit hatten und uns lange nicht ansehen konnten. Damals schmerzte es sehr, dich so ausgelassen mit einer anderen Frau zu sehnen, wo wir doch Schwestern sind und einander wirklich kennen. Und ich war so traurig und allein. es war hart, so als hättest du mich aus deinem Herzen heraus geschmissen. Heute weiß ich, dass es gut so war. Ich hatte mich ja viel zu fest an dich gebunden. Ich weiß, dass Liebe auch ersticken kann.

Interessante Namen findet man im grünen Buch: Leander, in goldenen Buchstaben, verschnörkelt gemalt. Ach ja, in deiner Post liegt ein Brief von ihm.
Ach Marie, wenn ich dich nicht so gerne hätte, ich könnte fast wütend werden über all das, was du mir nicht erzählt hast. Und ich dachte, ich kenne dich auswendig, und dann machst du solche Sachen, gehst einfach, lässt alles liegen und folgst einer spinnerten Idee, und niemand weiß, wo du nun bist.
Hast du einen Augenblick lang an all die Menschen gedacht, die sich inzwischen um dich sorgen, weil kein Lebenszeichen von dir sie erreicht.
Und doch, ich spüre, du lebst.

deine Klette, Claire

Spurensuche, Claire sucht Marie 6

Liebe Marie,

etwas erstaunliches ist geschehen: heute Morgen war ich so unruhig und ganz hoffnungslos – wie soll ich auch die Stecknadel im Heuhaufen finden – und jetzt, nachdem ich ein wenig geschlafen habe, gehts mir viel besser. Ich träumte vom Meer. Es war warm und smaragdgrün. Ich schwamm weit hinaus und sah eine rote Insel – schemenhaft zeichnete sich eine dunkle Bergkette ab. Plötzlich war eine Nixe neben mir. Sie flüsterte mir ins Ohr: „Finde Clarisse.“

Ihre Stimme war perlend und hell, wie eine unterirdische Quelle und die grünen Haare ringelten sich wie frisches Seetang um ihren schmalen Kopf. Ich wollte weiter schwimmen, aber sie griff an meine Schulter und gebot mir, zurück zu kehren aus meinem Traum.
Ich bin aufgestanden und in die Küche gegangen. Dort in der Schublade oben rechts, das weiß ich noch, liegt dein grünes Adressenbuch.

liebe Grüße, Claire