Kindheitsspuren (1) Nachtrag
Manche Wurzeln sollten aus der Erde gezogen werden, mit Stumpf und Stil. Sie vergiften und töten. Andere sollte man hegen und pflegen, auf dass sie sich ausbreiten und den Geist nähren. Eine meiner Wurzeln ist das Großmutterhaus, ein richtiges Geschichtenhaus, das die kindliche Fantasie gefördert und genährt hat.
Zur Geschichte von den roten Schuhen:
„MARIE hebt den roten Kinderschuh auf und steckt ihn in ihre Tasche, die groß ist und in der vieles Platz hat. Sie denkt an das Märchen und wie die Schuhe mit den abgehackten Füssen einfach weiterlaufen, durch den Wald, ins Feld, über den Berg bis hin zum See. Sie weint über das Mädchen, das nun niemals mehr laufen und lebenslustig tanzen wird. Sie denkt auch an Tante Olga, die dieses schreckliche Märchen erzählt hatte und an ihr schlimmes Ende auf Erden. Bedingt durch eine schwere nicht behandelte Diabetes verlor sie nach und nach Zeh, Fuß, ein Stück nach dem anderen vom Bein.
Marie weiß das alles, denn die Geschichten kommen über viele unterirdische Wege zu ihr. Das Wurzelwerk ist gigantisch.„
Marie
Wurzeln 2
Wurzeln 2
INTERVIEW MIT EINER KATZE
„Katze, du lebst im Wurzelwerk von Adam Winterbill. Wie bist du dorthin gekommen?“
„Das war Zufall und ist schon eine eigene Geschichte. Als kleines Kätzchen wurde ich im Wald ausgesetzt. Der Wurf war zu groß. Wir konnten nicht alle bei unserer Mutter bleiben.“
„Wer hat dich ausgesetzt?“
„Es war Moses, der jüngste Sohn des Bauern, auf dessen Hof ich geboren bin. Eigentlich sollte er mich ertränken. Da er ein weiches Herz hat, brachte er mich stattdessen hierher.“
„Hat er dich ganz allein in dieser Lichtung ausgesetzt?
„Ja, ich glaube, es war sein Lieblingsplatz im Wald. Später sah ich ihn noch öfter hier. Er hat sich ins Moos gesetzt und seinen Rücken an die alte Eiche gelehnt.“
„Das kann ich mir gut vorstellen. Ich komme auch oft hierher. Die Lichtung ist ein friedlicher Ort, an dem ich meine Sorgen vergessen kann. Er ist verwunschen und magisch. Gestern dachte ich plötzlich an das Kind, dass ich mal war. Damals glaubte ich fest daran, dass am Rande des Dorfes die Welt aufhört, gerade da, wo Fuchs und Hase einander Gute Nacht sagen.“
„Adam hat mich adoptiert. Unter seinem Schutz war ich gut behütet und fand genügend Nahrung, um satt zu werden und zu wachsen. Wir haben uns gut verstanden. Manchmal lege ich mich ins Moos vor seinen Stamm und miaue ihm ein Lied. Ich glaube, er mag das, denn er bewegt dann sein mächtiges Haupt hin und her und summt dazu. Ich fange die Mäuse weg, die an seinem Wurzelwerk nagen“
Du hast im Wurzelwerk eine richtige Wohnung mit Zimmern, Küche und Gästesalon. Haben sich viele Gäste hierher verirrt?“
„Mit der Zeit sind hier einige Gäste gestrandet. Alle habe Ruhe gesucht. Sie waren erschöpft und traurig. Manchmal sind sie eine Weile geblieben. Dann hat sich am Abend die blaue Tür geöffnet und sie sind hinein geschlittert ins Wurzelwerk. Ich habe sie bewirtet, getröstet und ein bisschen verwöhnt. Und sie haben ihre Geschichten dagelassen.“
„Wer waren diese Menschen und was hatten sie gemeinsam?“
„Adam Winterbill zieht bestimmte Menschen zu sich her. Meist sind es solche, die sich verwaist fühlen und nicht mehr so richtig wissen, wo sie hingehören. Es gibt viele verschiedene Gründe, warum Menschen sich so fühlen. Genauso verschieden und besonders sind auch ihre Geschichten. Alle sind sie Suchende.“
„Wonach suchen sie?“
„Nach ihrem roten Faden.“
„Du meinst den Ariadnefaden, der verhindert, dass sie in die Irre gehen, wenn im Leben alles durcheinandergerät?“
„Ja, wer hierher kommt such nach einem Leitstern, der den Weg weist. Immer wenn sie sich verabschieden, haben sie zumindest eine Idee, wie es weiter gehen kann. Und da ist wieder Hoffnung,“
„So wie Marie, die einem Stern folgte, der sie angezogen hat.“
„Ein Stern hat Marie nicht ohne Grund hierhergeführt. Adam ist erfahren und weise. Er spürt intuitiv was den Wesen fehlt, die hierhergekommen. Unzählige Geschichten sind in seinem Stamm gespeichert. Ein riesiger Schatz, der erzähle werden soll, um nicht verloren zu gehen.“
„Marie war lange bei dir und Adam zu Besuch.“
„Adam hat schnell erkannt, dass Marie eine Geschichtenerzählerin ist. Und weil sie die Baumsprache versteht, kann sie die gespeicherten Geschichten übersetzen und weitererzählen.“
„Marie hat ja selbst eine lange Geschichte hinter sich gelassen, ist durch viele Gefahren und Abenteuer gegangen, immer allein. Nur der innere Kompass war für sie richtungsweisend.“
„Das stimmt. Sie hat viele Freunde hinter sich gelassen, die sie gesucht und aus der Ferne mental unterstützt haben. Marie war gut vernetzt.“
„Am Ende hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllen können. Ihr Leben hing am seidenen Faden.“
„Es ging nie wirklich darum, eine Aufgabe zu erfüllen, sondern darum, Erfahrungen zu sammeln, über den Tellerrand zu schauen und unterwegs Dinge zu finden, die für den Augenblick und das weitere Leben hilfreich sein können.“
„Und ich, warum bin ich hier?“
„Du hast Marie erschaffen und bist ihre Stimme. Du bist der Findevogel und sammelst Geschichten. Deine Geschichten bilden ein zusammenhängendes Netzwerk, wie das Wurzelwerk von Adam, das verwoben ist mit all den anderen Wurzelgeflechten.“
Wurzeln 1
Ich sehe die alte Eiche auf der Lichtung thronen. Eine Majestät aus lebendigem Holz. Ich gab ihr einen Namen: „Adam Winterbill“.Der Baum ruht in sich und strahlt diese Ruhe aus. Die ganze Lichtung ist ein heilsamer Ort, in dem Stille zelebriert wird. In der Stille spitzen sich die Ohren und werden lang. Sie lauschen auf die feinen Stimmen und Töne, die in den Zweigen, im Moos und unter der Erde wispern, flüstern und singen. Manchmal hören sie das Gras wachsen. Adam sieht bezaubernd aus. Eine Schicht Pulverschnee hüllt ihn ein. Etwas Licht von oben zaubert Silberfunken in das helle Kleid. Es ist still. Nichts rührt sich. Selbst der Wind schweigt. Tief im Wurzelwerk hält MARIE Winterschlaf. Aber dieser Winter dauert schon eine Ewigkeit. Ist die Zeit hier stehengeblieben? In MARIE´s Träume schlängelt sich etwas Grünes, zartgliedrig. Es kommt aus einer Erbse. Vielleicht hat sie den Frühling herbeigesungen, damit das Leben neu beginnen kann. Grün ist die Farbe der Hoffnung. Ich sähe frisches Grün im Kistchen und Kästchen. Da draußen ist das Leben pandemiebedingt beinahe zum Erliegen gekommen. (Lockdown 2021). Ob MARIE zwischen den Wurzeln von Adam vom Frühling träumt? Während draußen noch alles kalt, matschig und nass ist, beginnen die Wurzeln sich zu recken. Sie lockern die Erde und streben nach oben zum Licht. Sie sind zäh und stark. Noch genießen sie Dämmerschlaf, Träume und das ganz langsame Erwachen.
Auch meine Wurzeln sind zäh und stark. Sie geben nicht auf, finden Wege um Widerstände auszuhebeln oder wachsen einfach um sie herum. Sie lassen sich nicht leicht am Wachsen hindern.
Drei kleine Schreibprojekte
Hallo liebe Leser, ich habe hier eine lange Schreibpause eingelegt und möchte nun wieder starten.
Meine Notitzhefte zu den zwei ersten Schreibprojekten sind gut gefüllt. „Zwischen zwei Ablenkungen…“ wird weiter geführt. Im „Suche nach Marie“ bin ich weiter gekommen. Sie ist wieder da. Es gibt Idee und ein grobes Konzept, wie ich ihre Geschichten mit den vielen anderen, die schon in Fragmenten und Bruchstücken vorhanden sind, verbinden und vervollständigen kann. Manches wird auch neu erzählt und erweitert werden. Ich werde das große „MARIE-Projekt“ aber nicht in diesem Blog veröffentlichen sondern in einem neuen: „In This Moment“. Der ist aber noch nicht im Netz.
Das 3. kleine Schreibprojekt „Agnes“ liegt noch brach. Wenn die Zeit reif ist, geht es dort weiter. Jetzt ist erst einmal „Marie-Zeit“
Schnipsel aus meinem Notizheft „Auf der Suche nach Marie“:
9.11.21
Marie ist da und doch nicht da. Seit Monaten scheint sie mir Träume zu schicken, schwere Träume, die kardiologische Beben auslösen. Das Herz schlägt beim Aufwachen zu schnell. Zuerst kommt die Angst, dann steigt der Blutdruck. Zweimal Notarzt und Rettungswagen, um im Krankenhaus festzustellen, dass alles in Ordnung ist mit meinem Herz.
Was sollen diese schweren Träume, die mich seit Monaten heimsuchen bewirken. In meinem Körper bebt die Erde. Ein Vulkan schickt Lavaströme. Was hat das Herz damit zu tun? Inzwischen weiß ich es zu beschwichtigen. Die richtige Atemtchnik sorgt dafür, dass der Puls wieder zum Normalmaß zurück findet. Angst bleibt aus und der Blutdruck normal.
In die Angst bin ich hinein gegangen, um sie hinter mir zu lassen. Ein kleiner Raum am Rande des Bewusstseins bleibt ihr erhalten. Mein Herz ist stark und gesund. Warum regen die Träume mich so auf während ich schlafe, träume und keinen Einfuss auf meinen Körper habe?. Nur das Nachbeben spüre ich. Es ist Zeit für die Träume und das Herz. MARIE, du hast schon immer gewusst, dass für beides genügend Raum vorhanden sein muss. Es gab Zeiten, da führte ich Traumtagebuch. Damit sollte ich wieder beginnen. Am Himmel steht eine Sichel, zunehmender Mond! Und was sagt mein Herz dazu?
Träume sind gute Inspirationsquellen und ein Zugang zum Unbewussten.
Heute Abend liegen Stift und Papier bereit. Und wenn ich alles aufgeschrieben habe, zähle ich rückwärts. Bis ich wieder einschlafe.“
Drei kleine Schreibprojekte
1. Die Suche nach MARIE
MARIE ist eine der ersten Protagonistinnen, die ich erfunden, gestaltet und 2006 ins Leben geschickt habe. Plötzlich war sie da und nahm Gestalt an. Folgte ich ihr oder folgte sie mir? Ich kann es nicht sagen. Sie kam zum richtigen Zeitpunkt, denn ich setzte mich gerade mit einer schweren medizinischen Diagnose auseinander: Krebs. Die Behandlung machte mich richtig krank, raubte mir Energie und Kraft. Ich erinnere mich an Tage, an denen ich das Gefühl hatte, alle Lebenskraft rinne unaufhörlich aus mir heraus. andere habe ich nur verdöst. Wenn ich aufstehen konnte, habe ich geschrieben. Beim Schreiben vergaß ich Kraftlosigkeit, Schmerzen und Müdigkeit. Ich habe Marie auf eine Reise geschickt ins Ungewisse. Während ich sie schrieb fand sie für uns beide hilfreiche Dinge, Visionen, Metaphern, Lichtgestalten, heilende und erhellende Substanzen, die Elemente, Magie. Diese unterstützten Marie bei den Herausforderungen der gefährlichen Abenteuer ihrer Reise. Gleichzeitig halfen sie mir bei der Bewältigung meiner Krankheit und der darauffolgenden Genesung. So wie MARIE sich neu erfunden hat nach dieser Reise, musste auch ich mich neu erfinden und alles was durch die Krankheit auseinandergebrochen war, Stück für Stück wieder zusammensetzen.
Sie verschwand wie sie gekommen war. Eines Tages fielen mir keine neuen MARIE-Geschichten mehr ein. Natürlich ist sie ein Teil von mir, der nur auf einer anderen Ebene unterwegs ist, so sehe ich das.
Ich möchte sie gerne wieder finden, und suche die versteckte Brücke, Abzweigung, den überwucherten Pfad, das Heckenloch, das auf ihre Ebene führt.
Jede Suche ist immer auch eine Suche nach sich selbst, und so schreibe ich nun jeden Abend vor dem Schlafengehen an diesem Projekt. Ich schreibe auf, was mir in den Sinn kommt und folge dem Motto: „Der Weg ist das Ziel.“ So gelten die letzten Gedanken des Tages MARIE und ich nehme diese mit in meine Träume.
Ein nächtlicher Traum
„Was für ein merkwürdiger Traum.“ denkt Frau Lillac, während Traumfetzen an ihrem inneren Auge vorbei düsen. Sie spürt noch das großartige Gefühl innerer Befreiung, als das Himmelsleuchten am Ende des Traumes in jede Pore ihrer Haut eingedrungen war und sie mit Licht und Liebe bis zum Rand ausgefüllt hatte, bis sie selbst zu leuchten begann. Rundum erneuert, als hätte eine höhere Macht ihren Körper recycelt, so frisch fühlte sie sich beim Aufwachen. Und sie hörte noch die warme, wohltuende Stimme , die in ihr Ohr flüsterte, während ein warmer Wind sie sanft streichelte:
„Ausreisen, du wirst ausreisen.“ prophezeite die Stimme.
Frau Lillac kostet diesen Satz. Er schmeckt süß und hat im Abgang etwas Bitteres.
„Wohin soll ich denn ausreisen? Was meint die Stimme?
Plötzlich denkt sie an MARIE, ihre Freundin aus Kindertagen. An einem Morgen hat diese die Haustüre hinter sich geschlossen, ist zum Hafen gegangen und mit einem Fischerboot aufs Meer hinausgeschwommen. Sie folgte einer Traumstimme, die sie zu einer fernen Insel und einer besonderen Aufgabe schickte. MARIE blieb lange verschollen. Monate später fand FrauLillac sie in der städtischen Klinik wieder. MARIE lag im Koma, aus dem sie als eine Veränderte erwachte. Nie erzählte sie von ihren Erlebnissen auf der Insel, aber eine Weisheit strahlte von ihr aus, die jeden in seine Tiefe zu führen vermochte, der ihr begegnete. Sie sei nicht mehr von dieser Welt, hatten einige Bekannte gemeint.
„Wenn jemand seinem ganz eigenen Weg geht und gegen den Strom schwimmt, wird dieser Jemand nicht immer ein Stück weit sonderbar wirken?“ fragt sich Frau Lillac und springt aus dem Bett.
Die gewohnten Gedankengebäude zu verlassen, über den Tellerrand zu hüpfen wäre eine Art Ausreise für sie. Wolte sie das nicht schon lange?
Damals, als ich es zum ersten Mal sah…
Ich, Marie, erinnere mich. Genau auf diesen Polstern hier im roten Salon saß ich vor langer Zeit mit dir. Es war im Herbst. Auf dem niedrigen Tisch zu meinen Füßen stand eine Schale mit duftenden Äpfel, und am Fenster brannte ein siebenarmiger Leuchter mit haselbraunen Kerzen. Es duftete nach Bienenwachs und Orangenschale. Ich hauchte einen Sonnenkuss in dein ergrautes Haar. Zeiten kommen, Zeiten gehen! Ich bin nicht mehr die, an die du damals dein Herz verloren hast. Einst, mein Liebster, war in deinen Augen das lichte Meer. Ich fiel hinein und vergaß die Zeit in dieser graugrünen Unendlichkeit. Dort lag ich auf dem Rücken und ließ mich tragen. Kein Schrecken, weder Angst noch Sorgen, kein Schmerz warteten am Horizont. An jenem Tag, als ich einen Sonnenkuss in dein Haar hauchte, waren deine Augen ein stürmisches Meer. Bedrohliche Schatten wuchsen am Horizont und die Wellen peitschten hoch.
Pass auf, dass du nicht zerschellst mit deinem Boot im Lebensmeer, flüsterte ich gleich einem zärtlichen Wind.
Du bist gegangen ohne ein Wort, und ich lief in den Garten und vertraute Frau Hulda, dem Holunderbusch, meine Tränen an. Es ist lange her. Wo steh ich jetzt?
Dunkle Tage
lichtverschluckte tage ducken sich
unter dem weißen himmel
skurile baumgestalten staken in stunden
spießen sekunden auf
zeit dehnt sich über den rand
raum darin, endlos
still und schweigend ruht sich leben aus
Ich möchte anschreien gegen ungezählte künstliche Lichter, die mir die Dunkelheit der langen Nächte rauben, mich um den Schlaf bringen, meine Träume überbelichten, Vorfreude schmälern.
Wie soll der Fremde mein Licht finden unter all den ungezählten Lichtern und künstlichen Sonnen, die flackern und blinken?
MARIE’s Leitstern, wo ist er geblieben?
Wie soll ich neu werden unter den wechselnden Monden, bis der Frühling kommt?
SPURENSUCHE, CLAIRE SUCHT MARIE 8
Claire schreckt hoch. Schweißperlen stehen auf Stirn und der Nacken wird nass. Das Herz klopft so laut, dass sie unwillkürlich an ihre Brust fasst, als wolle sie verhindern, dass es seine Höhle verläßt. Sie zittert und ihr ist kalt. Was war nur gewesen? Sie muss sich beruhigen.
„Komm, Claire, beruhige dich“ , flüstert sie zu sich selbst, „du bist in Maries Wohnung, die Türen sind abgeschlossen. Du bist sicher!“
Regen trommelt gegen das Fenster. Claire zieht die Bettdecke bis zum Kinn hoch, traut sich aber nicht, die Augen zu schließen. Sie konzentriert sich auf das gleichmäßige Geräusch des Regens und auf den eigenen Atem, der nach und nach ruhiger wird.
„Es war nur ein Traum, nicht mehr.“ aber was wollte dieser Traum ihr sagen? Welche Botschaft enthielt er?
Claire bedient den Lichtschalter. Es wird hell. Sie setzt sich auf, zieht die Knie an den Bauch, umschlingt sie mit den Armen und beginnt zu weinen. Sie fühlt sich so allein, verlassen von allen, einsam. Warum nur, war Marie nicht da? Lear kam ihr in den Sinn. Lange hat sie nicht an den flüchtigen Augenblick dieser Begegnung gedacht.
Spurensuche, Claire sucht Marie…
WER IST CLARISSE?
Es ist Nacht! Ein sichelförmiges Boot legt an und eine hohe schlanke Gestalt steigt aus, zieht das Boot an Land, und vertäut es sicher an den Hafenpollern. Auf kräftigen Füßen läuft die Gestalt durch den nassen Sand und hinterlässt ausgeprägte Fußspuren.
In der Dunkelheit ist die Person nicht zu erkennen. Die Gesichtszüge liegen im Schatten einer weiten Kapuze. Offensichtlich hat der Bootsbesitzer es sehr eilig.
Es ist Knut, der Seebär, unterwegs in Sachen Lust. Zu lange war er schon unterwegs und immer der Geschmack nach Saltz auf den Lippen. Die Schifffahrt lohnt sich nicht mehr.
Er ist mit schweren, schnellen Schritten unterwegs. Sein Ziel ist ein kleines Haus in der Altstadt. Schon bald klopft er an eine schwarze Holztür. Das schiefe Haus wirkt verkommen und abgetakelt. Aber Clarisse ist billig und gut. Knut ist ungeduldig. Er kann nicht still stehen, tritt von einem auf das andere Bein. Endlich wird geöffnet.
Die Wände im kleinen Haus sind rot gestrichen. Billige, verrauchte Möbel machen die Einrichtung aus. Doch Clarisse?
Sie strahlt! Ihre ewige Schönheit blendet und hat schon manch ein kleineres und größeres Drama in der Stadt ausgelöst. Sie ist nicht wie andere Huren, nein, sie bietet sich an, weist Männer aber auch ab, wenn sie ihrer stolzen Nase nicht gefallen.“Clarisse, ein Flair, ein Esprit, ein Tempel der Sehnsüchte.“(sagte mal eine Feinschmeckerin über sie). Es wird gemunkelt, dass Clarisse auch Frauen nicht abgeneigt ist. Knut jedoch findet Gnade. Er darf sich seine Sehnsüchte erfüllen. Während sein Boot gut vertaut im Hafen dümpelt, legt er das Geld in das Buch neben dem Nachttisch. Es ist eine Bibel. „Clarisse, ein Flair, ein Esprit, ein Tempel der Sehnsüchte.“(Zitat jener Feinschmeckerin)Entfesselt und nackt schaut der Kapitän auf das Buch:
„Wir haben gesündigt, Clarisse.“ flüstert er entsetzt.
„Wir haben gesündigt, Knut?“ Clarisse bricht in ein wieherndes Lachen aus. „Du bist ein verdammter Kindskopf, Knut, kriegst einen Anfall, nur weil die Bibel hier liegt.“
Der Mann schaut sie verdattert an: „Aber schau, wir haben…..!“
„und überhaupt,“ fragt sich die Frau, zieht dabei die Stirn in Falten, “ wer zum Teufel hat das Buch hier hingelegt?“
Der Mann schaut sie verdattert an: „Aber schau, wir haben…..!“ „
Clarisse ist nicht dumm. Hier helfen keine Worte, aber sie weiß die Männer bei der Stange zu halten. Schließlich liegt es in ihrem eigenen Interesse, deren Bedürfnisse zu befriedigen. Schließlich lebt sie von ihnen.
Schlangengleich schmiegt sich ihr seidenglatter Körper an Knut heran. Ja, sie weiß die geheimen Verstecke züngelnd zu erreichen, die Männer alles vergessen lassen, kennt ihre unausgesprochenen Sehnsüchte, weiß, wie sie ihre Beute hypnotisieren muss, um jenen Punkt zu erreichen, an dem „Mann“ das Denken vergisst, nur noch Körper ist und seiner Begierde folgt.
Clarisse war eine strategische Meisterin. Was sie wollte geschah, und schon nach kurzer Zeit vergaß Knut die Gedanken an Sünde und Schuld, und opferte seine Lust auf dem Altar der Begierde. Anschließend fiel er gesättigt fast augenblicklich in Schlaf. Unschuldig wie ein Kind sah er aus. Zufrieden schaute Clarisse auf diesen gefallenen Bären, und freute sich ihrer Macht. Ja, schwer und golden lag ein Schlüssel in ihrer Hand. Ein triumphierendes Lachen perlte in ihrer Kehle.
Im Gegensatz zu Knut fand Clarisse lange keinen Schlaf. Vieles ging ihr durch den Kopf. Und sie hatte Zeit zum Nachdenken, denn Knut bezahlte immer für eine ganze Nacht an ihrer Seite. Kein weiterer Freier stand vor ihrer Türe. Wie wohltuend das war!
Clarisse war nicht herzlos. Gut geerdet folgte sie mit der notwendigen Distanz ihrer beruflichen Profession. Sie musste leben und für das Alter vorsorgen. Dennoch besaß jeder der Männer ihrer Stammkundschaft einen kleinen Platz in ihrem Herzen. Diesen Luxus leistete sie sich.
In dieser Nacht aber dachte sie mit Sorgen an MARIE, ihre beste Freundin. Die war eines Vormittags völlig aufgelöst bei ihr erschienen, hatte sich ausgeheult und war dann mit einem Boot auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Clarisse wusste, dass Marie einer Obsession folgte und ihren Gefährten suchte.
Einmal mehr dachte Clarisse über das Wunder der Liebe nach, und wie diese die Menschen verändert.
Marie, ihre zarte und liebevolle Freundin, die bis heute nicht richtig erwachsen geworden war und die jetzt weit weg war, um nur noch der inneren Stimme zu gehorchte. Wo war Marie? Hatte sie Spuren gefunden, denen sie hoffnungsvoll folgen konnte?
Immerhin hatte Clarisse das Gefühl, dass Marie unter dem Einfluss beschützender Mächte stand.
In der Nacht träumte Clarisse von einer Insel, die von einer weisen Schleiereule bewacht wurde.
Im Schatten eines ausladenden Baumes sah sie die Schemen einer rotgekleideten Person.
(Ausschnitt aus Logbuch Marie 2005)