Aurora, die auf dem Seil tanzt 8

19.2.

Mein ferner Leuchtturmwärter,

ist es still auf deiner Insel? Gibt es andere Menschen dort? Oder lebst du ganz allein zwischen Möwen und anderem Geflügel? Ich stelle mir den Winter dort schwierig vor. Da ist mir die Stadt mit ihrer Lebendigkeit lieber, auch wenn gerade die Narren los sind, und ich mich in meinem Dachzimmerchen verbarrikadiert habe. Ich schaue von oben auf ihr buntes Treiben.
Wieder einmal werde ich nicht müde – die Worte balancieren auf einem Drahtseil in meinem Kopf. Sie sind aber nicht sicher, haben manchmal Höhenangst und purzeln dauernd herunter. Kein Netz fängt sie auf und so angele ich nach ihnen in der Tiefe. Wenn sie etwas gebrochen haben, kenne ich sie nicht unbedingt wieder. Sie sehen so anders aus – ein völlig anderer Sinn und nichts passt mehr.
Ich habe ein Lazarett eingerichtet für verletzte Worte.
Und überhaupt, was wollte ich noch sagen? Geht es dir auch manchmal so, dass du einen großen Bogen um den Kern der Sache machst, weil du sie nicht an dich heran lassen kannst, Angst hast, der Wahrheit ausweichen möchtest, und doch zieht es dich genau dorthin. Aber du hast nicht mit den Tücken der Gedanken gerechnet – da turnen sie plötzlich auf dem Seil herum, stürzen und du hast Mühe, sie wieder zu finden.

Es sind immer Schichten aus Gedanken, Worten, Erinnerungen, Gefühlen und Träumen, die den Augenblick wirken. Ich werde über Ginseng nachdenken und den Wert von Wurzeln. Vielleicht finde ich so den verlorengegangenen Faden wieder, und meine Worte müssen keinen Drahtseilakt mehr absolvieren.

Es grüßt dich Aurora, die ihre Worte pflegt

AURORA, die auf dem Seil tanzt 7

10.2.

Hallo liebster Federfreund,

der Nachmittag war schön. Er brachte Sonnenschein und im Licht sahen die verregneten Straßen silbern aus. Ich hängte mein Seil auf und wagte mich hinauf. Was für ein Hochgefühl, wieder oben zu stehen und gekonnt mit der Balancierstange zu jonglieren, aber dann – wieder unten – rutschte die Stimmung in den Keller. Ich kann dir nicht sagen, wodurch es ausgelöst wurde.
Ich bin traurig und dieser Schmerz brandet in mir wie Ebbe und Flut, immer neu, unvorhersehbar, nie gleich. Glaubst du, dass man sich in einem Menschen verlieren kann? So, dass man sich nie wiederfindet? Selbst wenn man glaubt, man hat sich wiedergefunden – und schon jubiliert das Herz – kommt die nächste Welle und schwemmt einen fort.
Ich hatte mich doch längst freigeschwommen. Ich verstehe mich nicht und zürne mir.
Warum bin ich oben auf dem Seil viel sicherer, als unten auf dem Boden. Dort brauche ich ein doppeltes Netz, um den Stolperfallen zu entgehen.
Wirf mir das Netz herrüber, und zieh mich auf deine Insel. Ich möchte ganz oben im Leuchtturm neben dir sein, über das Meer schauen und deine Nähe spüren.

Gute Nacht sagt für heute Aurora

FLASCHENPOST 1

7.7.

Liebe AURORA,

 

lange habe ich geschwiegen und dich darüber im Unklaren gelassen, ob es mich gibt.
Ich war mir unsicher. Du eine schreibfreudige Seiltänzerin, deren Briefe mir ans Herz gewachsen sind, mich oft aus meinem Schneckenhaus gelockt und mir ein Lächeln auf die Lippen gezaubert haben, warst mir zu fremd. Wer bist du nur, und warum schreibst du mir, einem völlig unwichtigen Menschen? Wer macht denn so etwas schon?Außerdem bin ich den Umgang mit Menschen nicht gewohnt und etwas ungelenk mit den Worten. Aber du hast dich nicht davon abhalten lassen, weiter Briefe zu schreiben. Doch dann kam nichts mehr, plötzlich kein Lebenszeichen mehr von dir. Ich war traurig.
Am liebsten hätte ich alles stehen und liegen gelassen, wäre in ein Boot gestiegen, über den großen Ozean gesegelt, um dich zu suchen in deinem kleinen Haus, mit den blauen Fenstern, hinter den Dünen, am Rande der großen Stadt.

Tatsächlich habe ich widerspenstige, kaum zu bändigende Locken und bernsteinbraune Augen. Meine Stimme ist weder Tenor noch Bariton, sondern ein Mezzosopran. Manchmal singe ich gegen den Sturm an. Ich bin aber leider kein Traumtänzer, sondern eine eigenbrödlerische Traumtänzerin, lebe aber wirklich auf einer kleinen Insel, zähle dort die Vögel und halte den Leuchtturm in Schuss. Ab und zu kommen Besucher mit dem Schiff. Ich zeige ihnen mein Reich und bin froh, wenn sie am Abend wieder den Rückweg zum Festland antreten.
Beinahe bin ich eine Königin hier.
Die Vorstellung gefällt mir!
Allerdings kann ich mit herrschaftlichen Roben, perlenbesetzten Stöckelschuhen, Schmuck und Krone nichts anfangen. Ich trage Jeans, Karohemden, dicke Socken, Wanderschuhe. Mütze und Schal dürfen nicht fehlen, auch nicht der dicke Parka und die kuscheligen Fleecejacken.
Der Wind hier ist frisch und oft stürmisch, einäußerst launischer und ungebärdiger Geist.
Ich könnte dir Geschichten erzählen…. und ganz sicher würdest du sofort eine Gänsehaut bekommen.
Meistens liebe ich mein einsames Leben, nur bisweilen fühle ich mich einsam. Zum Glück legt einmal in der Woche das Proviantschiff an, und ich trinke mit dem Schipper einen heißen Tee. Wir haben uns immer was zu erzählen, auch Dönekes und Seemannsgarn.
Er bringt mir natürlich auch die Post vom Festland mit.
An einer geschützten.Stelle auf der Insel lege ich mir gerade ein Gärtlein an. Und einen treuen Freund besitze ich, Leon, der Wolfsspitz.
Ich schicke meinen Brief per Flaschenpost, und hoffe, er erreicht dich.
 
Gruß aus der Ferne, ANTONIA, die Traumtänzerin.

Aurora, die auf dem Seil tanzt 6

8.2

Mein liebster Traumtänzer,

hast du schlechte Laune?
Bist du genervt?
Die Möwe, unser heimlicher Bote, kam schnodderig zurück. Sehnst dich wohl  zurück in dein Schneckenhaus, hm?
Und kannst doch den vielen geöffneten Türen nicht widerstehen.
Verstehe ich, geht mir manchmal auch so. Heute ist Schietwetter, kalt und nass – es kriecht regelrecht unter die Haut und lässt frösteln.
Ich war eine Weile draußen, plauderte mit dem Briefträger – harter Job bei diesem Wetter.
Am Morgen stand ich am Fenster und schaute hinaus – es regnete ohne Unterlass, und zwischendurch fiel Schnee. Meine Hände waren ungeduldig, wollten Beschäftigung, also faltete ich lauter kleine weiße Segelschiffe.
Eben nun klingelte es an der Haustüre, und das Nachbarkind besuchte mich – ein schüchterner Fünfjähriger, der gerne Geschichten hört.
Da kam mir eine Idee: ich zog Gummistiefel an. Zusammen gingen wir in den Regen, ließen die kleinen Segelboote in den Pfützen schwimmen und taten so, als seien wir gefährliche Piraten, die in einen Sturm geraten sind.
Es dauerte nicht lange, und wir waren durch und durch nass.
Schnell wieder ins Haus, gut abgetrocknet und heiße Schokolade gekocht.
Ein paar Reste Weihnachtsplätzchen fand ich am Grunde der Blechdose mit den zierlichen Engeln. Sie schmecken noch sehr gut und duften nach Anis und Zimt. Wir hatten viel Spaß miteinander, der Junge und ich.

Dann holte seine Mutter ihn ab,  ich legte die Beine hoch, entzündete Kerzen. Nun denke ich mir den Brief an dich aus.
Aus dem CD-Spieler klingt Opernmusik – Arien, und alles ganz laut.

Mein Fuß hat sich gut erholt.
Wenn das Wetter morgen trocken ist, geh ich aufs Seil, Aurora

Aurora, die auf dem Seil tanzt 3

4.2.

Liebster Federfuchs,

heute konnte ich schon wieder humpeln. Der Knöchel schwillt ab – hm, vielleicht gelingt es mir ja morgen , über die Schwelle zu hüpfen. Der Wind dreht sich, und ich glaube du hast dein Schneckenhaus verlassen, um den Leuchtturm zu inspizieren. Ist die Möwe gut bei dir angekommen? Was alles so schwillt im Augenblick. Nicht nur der Fluß vor meiner Tür, in den Bäumen steigt der Saft und die Vögel spielen verrückt. Ich bin heute brav gewesen und habe still im Sessel gesessen, meinen Knöchel gekühlt und in mich hinein gehorcht. Du kennst ja meine innere Unruhe und die Schwierigkeit, still zu sitzen. Nun, heute ging es gut. Ich habe in alten Bildern gekramt – ach war ich ein süßes Baby – und eine innere Diskussion darüber geführt, ob deine Stimme nun ein Bariton oder ein Tenor ist. Keins von beiden, stellte ich fest, es ist ein Zwischending. Auch das weißt du schon, ich liebe alle Dinge dazwischen: was sich versteckt, in Spalten und Fugen; zwischen Zeiten, Diesseits und Jenseits.
Manchmal frage ich mich, warum ich es mir nicht einfacher mache und nur registriere was sicht-und fassbar ist. All dieses Unfassbare nimmt soviel Gedankenraum ein. Zugegeben, es ist viel spannender und nährt mich besser.
Neulich las ich, dass es Menschen gibt, die mehr das große Ganze im Blick haben und andere, die sich im Detail verlieren.
Ich denke gerade, wenn ich schon das große Ganze nicht erfassen kann, konzentriere ich mich doch lieber auf die hübschen Details. Wie gut, dass es zum Ausgleich dich gibt. Du bist in der Kuppel des Leuchtturms angelangt: dein Blick schaut von oben, geht weit. Siehst du mich am Rande des Meeres, jenseits der Dünen? Dort wo die Außenbezirke der Stadt am Fluss beginnen und im obersten Dachlukenfenster des kleinen blauen Hauses noch Licht brennt.

Siehst du mich? Ich winke mit der rechten Hand und schicke ein Lächeln, deine versonnene Aurora, die bald wieder aufs Seil kann

Aurora, die auf dem Seil tanzt 2

3.2.
Guten Abend, Traumtänzer,
hast du tagwärts schon Träume getanzt ?

Mein Knöchel hält mich am Boden. Kein Seiltanzen heute. Hab mich verknickt! Stattdessen  jongliere ich mit Worten.
Stell dir vor, heute sind sie mir alle durcheinander gepurzelt. Der Sinn hat sich hinter dem Durcheinander versteckt. Ich wußte plötzlich nicht mehr, was ich vor ein paar Minuten noch wollte. Dabei hatte ich mit den bunten Gedankenbällen schon fast einen Regenbogen jongliert. Ich war untröstlich. Hier sind die Reste:

komm
du bi mein
erfüll mit schein
das griesegraue sein
es fließt der rhein
nach norden heim
und klebt mit leim
was fest soll sein
auf einem bein
noch ganz allein
ist es nicht klein
das du bi mein

Traumtänzer, du hast mir schon so viele Antworten gegeben. Kannst du mir vielleicht verraten, wer das „du bi mein“ ist? Seit Monaten geistert es durch meine Gedanken, wie ein kauziges Irrlicht. Es spukt, poltert und klabautert. Ich mag es gern, denn es bringt mich oft zum Lachen, wenn ich gerade dabei bin, in den trüben Gedanken herum zu fischen. Aber so eigensinnig, wie es zu sein scheint, entzieht es sich jedem Versuch, ihm eine Form zu verpassen. Hey, vielleicht sollte ich es mal zu dir schicken, damit es dich endlich aus deiner Winterstarre erlöst.
Du runzelst die Stirn und presst die Lippen aufeinander. Das heißt „Nein“ nicht wahr, „lass es bloß sein.“ Ja, ich verstehe, du willst noch nicht. „Alles zur rechten Zeit!“ rufst du.
Ist ja schon gut, aber auf Dauer sind diese Monologe unergiebig – obwohl – vielleicht auch nicht, denn dein Schweigen lässt meine grauen Zellen auf Hochtouren werken.
Ich staune nicht schlecht. Gerade war die besondere Möwe an meinem Fenster. Ich habe ihr mit einem schönen Seemannsknoten ein paar Luftküsse um den Hals gebunden, und sie hat mir versprochen, sie zu dir zu bringen. Du weißt ja, dass die Vögel mich verstehen.
Also sei lieb, und nimm die Möwe in Empfang und natürlich meine luftigen Knutscher.
Jetzt guck mich doch nicht so streng an – da werde ich ja ganz zerknirscht.

Ich bins doch nur, deine (gerade nicht) tanzende Aurora

Aurora, die auf dem Seil tanzt 1

26.1.

Herzallerliebster Traumtänzer,

mein Mitteilungsbedürfnis ist riesig im Augenblick Keiner will mir mehr zuhören, weil ich ständig quassele. Sie mögen oder können mir auch nicht mehr folgen. Bin schon fast über den Wolken auf dem Weg zu dir. Ich fliege ihnen davon, und sie sind zu bequem, um mich einzufangen und wahrzunehmen, welches unbezahlbare Juwel ich bin. ( Na ja, das würde jetzt in den Selbstbeweihräucherungs-Thread passen) Ich schäme mich ein wenig für diesen Satz. Nein, DU, ich sage ihn nicht, um ihn von dir bestätigt zu bekommen. Das wäre mir eher unangenehm. Zu schmalzig. Mal im Ernst, diese Art von Schleimerei haben wir beide doch nicht nötig. Oder? Wie gut, dass es dich gibt, ein Phantom, von mir erdacht und doch eine präzise Gestalt: feingliedrig und groß mit breiten Schultern und schmalen Hüften, nicht mehr jung – gerade 55 geworden – Sternzeichen: Steinbock – sehr eigen!. Ich sehe schon, du runzelst die Stirn. Wie gut, dass wenigstens du mich so nimmst, wie ich bin. Ja,ja, ich sehe dich Schmunzeln. Ach könnte ich doch zu dir ins Schneckenhaus kriechen. Die Zeit würde uns nicht lang, und das Seemannsgarn würde wie Gras immer höher wachsen. Könte echt gefährlich werden, wenn unser Häuschen überwuchert und unsichtbar wäre. Ach Federfreund, deine Stimme muss ich noch erfinden: ich schwanke zwischen Tenor und Bariton. Ich glaube, du sprichst schnell und sehr betont – deine Sätze überschlagen sich und deine Mimik ist ebenso beweglich wie die meine. In unseren Zügen kann man lesen, wie in einem Buch. Deine dunklen Augen blitzen und über der hohen Stirn ringeln sich die grauen Locken – ein bisschen frech siehst du aus. Das Lausbübische hast du nicht verloren. Weißt du, schon als Kind habe ich Halma, Dame und Mühle gegen mich selbst gespielt: niemand hatte Lust oder Zeit. Genauso kann ich mir Gestalten ausdenken und mein Monolog wird zum Dialog. Geben wir also die Bühne frei für eine gelingende Inszenierung. Tschüss für heute – vergiss das Schlafen nicht und grüße die Wellen, Aurora, die sich heute wieder aufs Seil getraut hat.
Hm, vielleicht gibts dich ja wirklich – irgendwo! Vielleicht auf einer Nordseeinsel als Leuchtturmwärter?

 
DANKE FREUDENWEGE, DASS DU MICH ERINNERT HAST!

Wieso nicht einfach mal lostanzen, sich von den eigenen, leichten Schritten führen lassen, ganz intuitiv? Muss auch gar nicht im Traum sein!

über Das Wort der Woche (11): Traumtänzer — freudenwege

Versperrte Sicht

In die Schluchten zwischen den verlorenen Stunden hat sich dein Lächeln verloren. Dieses Lächeln, das den Tag hell machte und vom Glücklichsein erzählte. Was ist geschehen Marie, dass ein Absturz dies vermochte? Ich stehe auf dem Leuchtturm hinter dem Horizont und sehe nichts außer Nebel.
Mittendrin bin ich mit mir allein, und während ich noch grübele, warum die Sicht sich mir versperrt, taucht aus der Erinnerung dein Lächeln wieder auf. Es ist noch da – die Wahrheit ist, nichts was war geht für immer verloren.
Es ruht am Grund.
Ich will ein Fischer sein und im Meer meine Netze aus werfen. Vielleicht verfängt sich dein Weinen in meinem Netz und jenseits von Gut und Böse werde ich verstehen.
Es wird seinen Grund haben, dass die Sicht mir nahm, was ich nun in mir finde.

In der Nacht fuhr ich zur See – Marie – und warf meine Netze aus. Stunde um Stunde schaute ich in die Dunkelheit und lauschte dem Plätschern der Wellen an den Planken. Sanft schaukelte das Boot. Ich weiß nicht wie es geschah, aber diese stetigen und gleichbleibenden Geräusche versetzten mich in einen trance-ähnlichen Zustand. Die Nebel um mich herum wurden dichter – fast greifbar, umschlossen mich wie eine Zelle aus Watte.
Und plötzlich hörte ich dein Weinen, nein es war ein Schluchzen und es gesellte sich zu dem Lächeln, das ich auf dem Leuchtturm gefunden hatte und für einen Moment spürte ich deinen Atem.
Freude weckte mich aus dem Dämmerzustand: „Du lebst!“ wusste ich nun. Es zappelte in meinem Netz, fast hätte ich es aus den Händen verloren.
Ich holte es ein und fand einen kleinen grünen König mit Fischschuppenschwanz, dem die Krone in die Stirn verrutscht war.