Der Weihnachtsbrief

Pia Tütü zieht den Vorhang auf. und lässt das Morgenlicht durch das Fenster hinein. Gerade eben hat der Wecker sie unsanft aus dem Schlaf geworfen. Pia versucht sich zu orientieren. Welcher Tag ist heute, stehen Termine an? Wo hat sie nur den Kalender hingelegt? jetzt aber erst mal Kaffee kochen, und so steigt sie die Treppe herunter. Das Knie knirscht und schmerzt wieder und erinnert daran, dass sie endlich einen Arzt aufsuchen sollte. Der Schlaf war unruhig in der letzten Nacht. Etwas liegt wie Gaze zwischen ihr und dem Tag, hindert sie daran, klare Gedanken zu fassen. Vielleicht ein Rest von dunklen Träumen? Der Streit gestern mit ihrem Lebensgefährten hat sie in der Nacht nicht los gelassen. Gedankenkarussel in den Wachphasen zwischen Schlaf und Traum. Wie soll es nur weiter gehen mit ihr und ihm? Ist eine gemeinsame Zukunft noch möglich? Pia sehnt sich nach Frieden und Stille, fürchtet aber auch das Alleinleben, jetzt wo die Kinder ihr Leben fern von zuhause leben.
Sie schüttelt die Gedanken ab wie einen zu engen Mantel, dessen Kragen ihr die Luft zum Atmen nimmt.
Kaffee kochen! Seit Monaten schon brüht sie ihn morgens per Hand frisch auf, ein wirksames Ritual gegen Morgen-Blues. Sie geht in die Küche, öffnet das Fester, füllt den Wasserbereiter und gibt die abgemessenen Kaffeebohnen in die elektrischen Mühle. Allein das Malgeräusch macht sie wacher. Sie genießt den Duft des frischgemahlenen Pulvers. Etwas wie Gemütlichkeit zieht in ihre Gedanken ein. Sie gießt Wasser auf den Kaffeesatz und freut sich auf den ersten Schluck. Langsam füllt sich die Tasse. Vor dem letzten Schub Wasser geht sie schnell noch zum Briefkasten, um die Tageszeitung zu holen.
In der Nacht hat es geregnet. Die Luft draußen ist angenehm kühl und frisch. Gerade leert der Müllwagen die Tonnen vor dem Haus, es ist Mittwoch, fällt ihr ein, und keine Termine zersplittern den Vormittag. Die aufgeregten Stimmen der vorbeieilenden Schulkinder klirren in den Novembertag. Wie unbeschwert sie noch in ihren Tag gehen, jeder Tag ein kleines Abenteuer, mit Raum zum wachsen.
Zurück in der Küche trinkt sie den ersten Schluck Kaffee und beginnt die Zeitung zu lesen.
Plötzlich fällt ihr ein, was sie heute tuen wollte. Sie möchte einen Weihnachtsbrief an liebe Freunde und Verwandte aufsetzen. Er soll ausführlich werden und darüber erzählen, was in diesem Jahr besonders war und ihr so alles geschehen ist. Man sieht sich nicht mehr so oft. Jeder ist mit Beruf und Familie beschäftigt. Die Wege zueinander scheinen weit. Sie möchte keine Floskeln schreiben und nichts beschönigen. Dafür braucht sie Zeit. Gut dass Weihnachten erst in vier Wochen ist. Zufrieden schlägt sie die Zeitung zu. Der Tag kann beginnen.

Nachtblau mit einem Hauch von Violett

(blau, weil es meine Lieblingsfarbe ist; natur, weil ich es natürlich liebe; Seemannsgarn, weil ich als Kind Klaubautergeschichten liebte)

Der Korb steht vor der Tür. Sie kann ihn nicht übersehen. Gerade kommt sie vom täglichen Spaziergang im Wald zurück, wie jeden Tag, so gegen sechzehn Uhr. Neugierig schaut sie in den Korb. Es liegen Wollknäuel darin und obenauf ein Zettel: „Strick eine Geschichte aus mir!“ steht darauf, in gleichmäßigen Druckbuchstaben ohne Schnörkel, geschrieben mit Tinte auf weißem Papier. Es beeindruckt und freut sie, dass da tatsächlich jemand Papier und Tinte benutzt hat. Irgendjemand, geht es ihr durch den Kopf, muss wissen, wann sie nachhause kommt, dass sie gerne strickt, besonders Socken, denn dabei kann man abtauchen in ganz andere Welten und dass sie gerne Seemannsgarn spinnt. Lieber sagt sie aber: „Ich spinne Seefrauengarn.“
Das Sockenstricken ist also für sie fast immer eine willkommene und entspannte Möglichkeit aus dem Alltag zu flüchten. Besonders aber, wenn der Tag stressig und die Arbeit mal wieder ätzend war.
Noch bevor sie den Haustürschlüssel aus der Jackentasche holt, greift sie in den Korb und zieht einen dicken Strang blauer Wolle hervor, genau jenes Blau, das sie über alles liebt: Nachtblau mit einem Hauch Violett.
Und schon geht es los. Sie schafft es nicht sofort, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, um die Türe zu öffnen. Die Bilder kommen einfach.
Sie sieht den nördlichen Ozean an seiner tiefsten Stelle. Jodhaltige Luft kitzelt ihre Nase. Hohe Wellen rollen in den bleigrauen Himmel hinein. Ein kleines Boot aus Binsen schaukelt mit ihnen mit. Sie kann es kaum fassen und begreifen, aber das kleine Boot hält wacker seinen Kurs. Es kippelt nicht, so als wisse es längst, dass es bald Land sichten und dort einen ruhigen Hafen finden wird. Es gelingt ihr noch nicht, in das Boot hinein zu schauen, um zu sehen, was sich dort versteckt.
So kehrt sie erst einmal zurück, denn es ist kalt draußen, öffnet die Haustür und betritt den Flur. Den Korb nimmt sie mit. Nachdem sie abgelegt hat betritt sie die Küche und kocht sich starken Kaffee, obwohl sie weiß, dass es dazu eigentlich schon zu spät ist. Die Nacht wird schlaflos bleiben.
Aber das ist ihr jetzt egal, denn wenn Frau nicht schlafen kann, dann kann sie träumen und Geschichten spinnen.

Sonntagsfreiheiten

“Jetzt aber flott.” und schon rennt er los, der Otto von nebenan. Bestrumpfte Füße stecken in Laufsandalen, die Shorts hängen verblichen unter dem mächtigen Bauch, die Hemdzipfel flattern mit den Haaren um die Wette. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, dem dicken Otto von nebenan, wie der da rennen kann. Aber wo will er hin zu so früher sonntäglicher Stunde? Ich stehe am Fenster und schüttle den Kopf. Das hat natürlich damit zutun, dass ich gerade erst aufgestanden bin, noch keinen Kaffee hatte und so, sonntäglich früh, verpennt und verträumt in den Tag torkele. Ein bisschen schlechtes Gewissen mischt sich in diese Stimmung, denn ich könnte ruhig auch mal wieder eine etwas schnellere Gangart einlegen. Respekt, Otto! Otto ist bärtig und gemütlich, ein bisschen introvertiert, aber kein schlechter Kerl. Er entspricht nicht gerade dem Reihenhausideal. Reihenhäusler sind betriebsam, haben immer was zu tun, kennen keinen Schlendrian und scheinen Muße nicht zu kennen.Sie wissen was sich gehört. wie man seinen Rasen zu stutzen hat und wie man/ frau dem Unkraut mit Vehemenz zu Leibe rückt. Ein untrüglicher Jagdsinn treibt sie an, zu schneiden, zu jäten, auszurotten. Sie wissen alles über ihre Nachbarn und lästern gerne. Eigentlich passe ich auch nicht so recht hierher. Wie der Otto. Ich liebe das süße Nichtstun nach getaner Arbeit und überlasse es gern dem lieben Gott, mir einen schönen Tag zu zaubern. Inzwischen sitze ich auf meinem Sofa, die Beine weit weg gestreckt, vor mir der Kaffee, neben mir ein Buch. Leise dudelt das Radio Sonntagsgemächlichkeit. Herrlich! Aber es nagt an mir: sollte, müsste ich nicht…. vor meinem inneren Auge türmen sich Bügelwäschehaufen zu Hochgebirgen auf, rebellieren und klirren Fenster , die geputzt werden wollen, wächst das Gras über meinen Kopf zusammen und zanken sich die Schnecken um den Pflücksalat…aber ich will heute nicht, will nur faul sein, mich mit meinen Gedanken in die Hängematte legen, draußen im Garten zwischen den Bäumen. Die Sonne lacht und der Wind schmeichelt. Ist doch egal, wohin der Otto flitzt. Wenn er zurück kommt, lade ich ihn auf einen Eiscafe zu mir in den wilden Garten ein.

Aurora, die auf dem Seil tanzt 5

7.2.

Guten Morgen Traumtänzer,

Hast du gut geschlafen? Ich sehe dich beim Frühstück: vor dir steht ein Pott Kaffee – er dampft noch. Du siehst müde und ein bisschen verknittert aus, und die Haare stehen in alle Richtungen ab, als seien sie es leid, ewig an deinem Kopf zu kleben und hätten sich entschieden, heute auszuwandern. So ähnlich sah ich heute Morgen auch aus. Der Wecker rüttelte mich unsanft aus meinem Traum. Eine Weile blieb ich noch liegen, dann trat ich ans Fenster und schaute in die Dunkelheit. Dabei sah ich mein Spiegelbild im Fensterglas. Es war noch dunkel.
Inzwischen habe ich schon einiges erledigt, meine erste Tasse Kaffee getrunken und mich an den Schreibtisch zurück gezogen.
Mein Fuß braucht noch etwas Schonung, schließlich will ich nicht gleich wieder vom Seil fallen. Welches Netz würde mich auffangen? Ach ja die Netze, auch so ein Wort, das mir immer wieder begegnet. Dabei denke ich nicht nur an die kleinen Fische, die beim Fischfang wieder über Bord geworfen werden, weil sie zu klein sind und nicht mal Fischsuppe aus ihnen gekocht werden kann, sondern eher an die eingefangenen Kostbarkeiten zwischen ganz ordinären Heringen.
Heute hat sich ein Seepferdchen im Traumnetz verfangen. Neulich war es ein blauer Fisch. Er tat mir leid und deshalb schickte ich ihn wieder ins Wasser. Was ich dann sah, wollte ich nicht glauben: er schwang sich in die Luft, verwandelte sich in einen Vogel, blaugefiedert – und flog nach Westen – in entgegengesetzte Richtung. Ab und zu, du wirst es nicht glauben, besucht er mich.

Und dann sind da noch die Menschenfängernetze, aber darüber schreibe ich ein anderes Mal. Jetzt nimmt der Alltag mich in die Pflicht. Gibt es Ziegen und Schafe auf deiner Insel?

Aurora, heute im Purpurkleid