Trau dich…es gibt nichts zu verlieren 4
Die blau-gelbe Tür (1)
Auf das, was sie nun erblickte, war Ilya nicht vorbereitet, auch nicht auf die trostlose Beklemmung, die ihr entgegen strömte. Der breite Weg, den sie betrat, war bedeckt mit Steinen, Asphaltstücken, Teerpappe und Trümmerteilen.. Die Wohnblöcke rechts und links von der Straße glichen einer auf Sand gebauten Ruinenstadt, die Riesenhände zerstört hatten. Die Glas losen Fenster mit den zersplitterten Rahmen ließen noch Wohnlandschaften erahnen von Menschen, die hier vor kurzem noch gelebt hatten. Zwischen den Häusern, auf den Wegen fanden sich unzählige zerbeulte und zerschossene Autowracks, herausgeschleuderte Haushaltsgegenstände, ein steckengebliebener Panzer.
Ilya erschrak zutiefst, als ihre Augen an einem Kinderwagen hängen blieben. Zum Glück lag darin kein Kind sondern eine Puppe ohne Arm mit weitaufgerissenen Augen. Ein alles einschließender grauroter Staubschleier ließ die löchrigen Fassaden der scheinbar verlassenen Geisterstadt zitternd und konturenlos erscheinen. Ilya ging langsam weiter durch die Stadt. Nichts rührte sich, nur von fern war ein rauer Singsang und das Knattern von Feuerwaffen zu vernehmen. Der feine Staub drang durch die Nase in den Körper ein, machte das Atmen schwer. Ilya band den Schal, den sie um ihren Hals geschlungen hatte vor Mund und Nase. Der Gestank in der Stadt war kaum zu ertragen. Frisch aufgeworfene Erdhügel schlängelten sich durch ehemalige Parks und Grünflächen.
Die Stadt selbst, war es überhaupt eine Stadt oder eher die Ausgeburt ihrer Fantasie, eine Fatamorgana des Grauens?
Ilya hatte Angst. Sie konnte nicht fliehen, sah kein Versteck, in das sie sich zurück ziehen konnte, um ihr viel zu schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Was kam da auf sie zu. Etwas bewegte sich ihr entgegen aus dem von alle Lebewesen verlassenen Wohnviertel, in dem die verbliebenen Bäume verkohlten Kleiderständern glichen. Am zunehmend dunkler werdenden Himmel blitzten neonfarbene Feuerstreifen auf. Feuergarben prasselten hernieder. Plötzlich kam jenseits der Häuser etwas in Bewegung. Die Luft um Ilya herum schien zu erzittern. Eine Karawane konturenloser, schleimiger Wesen bewegte sich im Marschschritt auf sie zu, hungrig mit leeren Blicken und dem ungebrochenem Willen, sich aggressiv und mit Gewalt alles Lebendige einzuverleiben und es zu zerstören. In ihrem Singsang ließen sich weder Worte noch Melodien erkennen. Rau, ungehobelt und gefährlich klang was Ilya hörte. Die Wesen begannen sie einzukreisen, kamen immer dichter, engten ihren Raum ein. Es zischte, züngelte und kreischte. Der Lärm war kaum auszuhalten. Trotz ihre Angst und der zunehmenden Einengung durch die Monster, gelang es Ilya, nach der Kastanie in ihrer Jackentasche zu greifen und mit letzter Kraft auszurufen: „Hilda hilf!“
Und plötzlich waren die Wesen verschwunden. Am Himmel wurde es heller. Ein neuer Tag hatte begonnen. Ilya hatte den Eindruck, aus einem grimmigen Alptraum zu erwachen, aber da waren immer noch die zerstörten Wohnblöcke, verkohlte Bäume, Schuttberge und frisch aufgeworfene Erdhügel. Der Kinderwagen war umgekippt. Die einarmige Puppe lag etwas entfernt in einer Pfütze. Ilya senkte den Blick und drehte sich in die entgegengesetzte Richtung. Dort stand an eine Hauswand angelehnt ein buntbemaltes Fahrrad. Ohne lange zu überlegen und zurückzuschauen , bestieg sie es, radelte aus der Stadt hinaus. Die Häuserblocks wurden niedriger, vereinzelten, ließen Gärten, Felder und Wiesen sehen. Das Atmen fiel Ilya jetzt leichter. Ab und zu zeigte sich die Sonne zwischen den Wolken. Sie hatte schon Kraft und wärmte. Ilya radelte und radelte. Zwischen zwei brachliegenden Feldern auf einem beinahe dreieckigen Wiesenfleck hielt sie an.