Lieblingssatz 9

„fern und fremd singt ein lied in mir
tonfolgen anderer leben“ aus“Apfelbaum“ von Agnieszka Lessmann (Fluchtzustand)

Nie musste ich flüchten, doch oft bin ich geflüchtet vor den Tonspuren ferner vergangener Zeiten, die mir Heimweh bescherten.

Herausgerissen aus dem Dorf meiner Mutter und eingepfercht in die Stadt meines Vaters, hätte ich mir verloren gehen können, doch nun leben zwei Seelen in meiner Brust.

Meist vertragen sie sich gut. Oft kooperieren sie, aber manchmal, wenn die Geräusche draußen zu laut werden oder Menschenmassen überfluten, dann entstehen schmerzliche Dissonanzen. Schräge Geigentöne, zerrissene Saiten.

Ich stopfe mir die Ohren zu und leiste dem Apfelbaum vor meiner Tür Gesellschaft.

Wurzeln 3

Vom Entwurzeln

Abgründe. Ja es hat etwas Abgründiges, etwas Unauslotbares, dieses Neue, das sich gerade aus dem Nichts zwischen den geraden Linien herausschält. Gestern war alles noch so klar und überschaubar. Gerade Asphaltwege im Morgenlicht ohne wildwucherndes Unkraut an den Rändern. Eben war da noch ein weiter unverstellter Blick auf den Horizont, an dem sich nichts Überraschendes zeigte. Über Nacht hat der Asphalt Löcher bekommen. Er hebt sich an. Da ist eine Kuppe, über die sie nicht hinaus schauen kann. Die Mittellinie hat sich verdreht. Baumwurzeln haben Kraft. An den Seitenrändern, schickt sich die Natur an, Raum zurück zu erobern. Nirgendwo sind Mensch und Tier zu sehen. Sie ist schon lange unterwegs, geflüchtet, weg von dem Ort, der ihre Heimat war. Der Abend naht, und der Weg nimmt kein Ende. Wo führt er hin? Was hinter der Kuppe liegt, kann sie nicht erkennen. Einfach stehen bleiben kann sie auch nicht. Die Beine schmerzen und die Zunge liegt dick und pelzig in ihrem Mund. Sie hat Durst. Die Straße wirkt bedrohlich. Weiter gehen kann sie nicht. Sie wird sich in die Büsche schlagen, um einen anderen Weg zu finden, einen, der sie zu einem Haus führt oder in eine Lichtung. Das Herz beginnt zu rasen. Kalter Schweiß steht ihr auf der Stirn. Was lauert im Schatten der Bäume? Sie versucht sich zu beruhigen, das rasende Herz unter Kontrolle und die Panik in den Griff zu bekommen. Für einen Augenblick lässt sie sich am Wegrand nieder, hält sich selbst umschlungen, bemüht sich mit aller Kraft, das einsetzende Gedankenkarussell zu stoppen und beschwört vor ihrem inneren Auge das Bild. Ein Traum schenkte ihr vor ein paar Tagen dieses Bild. Ein großer, breiter Mann im schwarzen Anzug mit einer Melone auf dem Kopf hält einen moosgrünen Regenschirm über ihren Kopf. Der Mann steht rechts hinter ihr. Er bringt den Geruch nach frischer Pfefferminze und Lavendel mit. Das beruhigt. Sie hebt den Kopf und schaut zur Straße. Mitten im Asphalt, dort wo ein Riss entstanden ist, hat sich die Sonnenblüte eines Löwenzahns entfaltet. Langsam steht sie wieder auf, verlässt die Straße, schiebt mit den Händen zwei Holunderbüsche auseinander, zwängt sich hindurch in den Wald, der ihr wie ein Urwald erscheint. Das Herz schlägt ruhig, die Panik ist vorbei, der kalte Schweiß abgewischt. Sie hat gelesen, dass in alten Zeiten vor jedem Haus ein Holunderbusch stand. Ein mächtiger Schutzbaum für Mensch und Tier. Und irgendwo da im Gebüsch wird eine Quelle sein.

Zu den Sternen

Wölfin, wirst du bei mir bleiben, wenn die Sterne an Macht gewinnen, ich ihnen entgegen strebe und der Erde entfliehe? Dein warmes, wildes Fell soll mir Halt sein. Die Gedanken sind meine Flügel und die Fantasie schmückt mich mit bunten Federn. Das Herz ist der Motor und der Geist Antrieb und Motivation.
Wohin auch immer – weit, weit über den Horizont hinaus. Das Land hinter den Sternen wird mich Fülle erinnern lassen und mir die Rückseite des Mondes zeigen.

Die Sterne hatten wieder an Macht gewonnen, denn es war Winter und  der nächtliche Frost kleidete die Welt in Glitzern, ein blaues Glitzern, das dem Tag etwas Unwirkliches, etwas Unwirtliches verlieh und dennoch an Anziehungskraft stetig gewann. Immer schon hatte sie die Schwerkraft der Erde überwinden wollen, um den darüber liegenden unendlichen Raum erobern zu können.  Ein Frösteln wanderte über die Haut und die Sehnsucht nach einem warmen Fell, das nach wildem Tier roch und Wärme ausstrahlte, erinnerte sie daran, dass sie noch hier bleiben musste.
Den Traum hatte sie nicht vergessen. In ihm wanderte sie in einem sterbenden Wald über Schnee und Eis. Sie suchte etwas, jenseits dieser kalten Welt mit ihren todbringenden Gefahren. Als sie daran  fast verzweifelte, weil sie glaubte, sich verirrt zu haben, da war die weiße Wölfin neben ihr an der rechten Seite und leitete sie auf den richtigen Weg zurück. Und ein schwarzer Rabe flog auf ihre linke Schulter und krächzte ihr Mut zu.
Es war nur ein Traum, aber einer, der so dicht und lebendig war, dass sie die Tiere intensiv bei sich spürte, das Gewicht des Raben auf der Schulter wahrnahm. Eine Feder kitzelte ihr Ohr. Und der Wolf ging so dicht neben ihr, dass sie seine Wärme spürte und den Raubtiergeruch in der Nase hatte. Kleine Atemwolken entließen Mund und Schnauze. Gleichzeitig wusste sie, dass diese Tiere ihre Kameraden waren, nicht ihre Feinde, die immer dann da sein würden, wenn sie ihrer Hilfe bedurfte. Wie jetzt.
So rief sie nach ihnen, sang das Wolfslied, rollte tiefe Töne aus ihrer Kehle heraus, zischte in den Wind und summte ein Wiegenlied in den Tag. Und da waren sie. Lichte Gesellen, die sie auf die Erde zurück holten und den hinauseilenden, flüchtenden Gedanken, mit denen sie davon stieben wollte, Einhalt geboten.
Jetzt war Jetzt, jede Sekunde eine Herausforderung, die sie annehmen konnte, was auch immer der Tag in seiner eisigen Schönheit noch bringen würde. Die Sterne würden warten müssen, denn die Zeit war noch nicht reif.