Wurzeln 17

Das alte Haus, der Ort, an dem ich die ersten sieben Jahre mit meiner Großfamilie gelebt habe, ist ein beseeltes Geschichtenhaus. Obwohl es inzwischen abgerissen ist, bleibt es in meiner Erinnerung intakt. Es ist wie ein sicheres Gehäuse in meinem Inneren, in das ich flüchten darf, wenn alles zu viel wird, das ich jederzeit betreten kann, um Schätze zu suchen, nach Wurzeln zu graben oder Geschichten zu finden. Auch zum fantasievollen Geschichtenerfinden eignet es sich sehr. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich den Schlüssel zum ihm nicht verloren habe und auch dafür, dass ich mir ein Stück vom kindlich magischem Denken erhalten konnte.
1962 bin ich mit meinen Eltern in die Großstadt gezogen: Einfamilienhaus, Neubau. Das neue Haus hatte keine Seele. Es war weder belebt, noch hingen Geschichten darin. Von jetzt auf gleich gab es keine Großfamilie mehr, auf die ich zurückgreifen konnte. Die vertrauten Dorfbewohner, das Land, Garten, Wiesen, Felder, Stalle, Schuppen und Heuböden fehlten. Tiere hatten wir keine. Es war alles eng, das neue Haus für mich ein Puppenhaus. Angst umhüllte es, die Angst meiner Mutter, die uns vor allem beschützen wollte, um sich selbst vor all dem Neuen zu schützen, dem sie sich nicht gewachsen fühlte. Es war ein Kulturschock und zunächst einmal die radikale Beschneidung von Möglichkeiten.

Wurzeln 16

Das alte Haus erzählt(1)

Das alte Haus schaut über den Hof auf den neuangelegten Garten. Spätsommerliches Licht streift Pflanzen, Bäume und Gebüsch, auch den kleinen Birnbaum mit den runden Früchten, die bald geerntet werden können. Die Duftwicken am Zaun sind voll erblüht. Auf dem Hof scharren die Hühner und gackern zufrieden vor sich hin. Der Hahn stolziert zwischen seinen Hennen. Im Vorgarten hat die Katze sich einen Sonnenfleck gesucht und lässt sich das Fell wärmen. Der Hofhund liegt an der Kette, denn gleicht kommt der Postbote, und den mag er nicht. Das Haus ist uralt. Viele Generationen habe darin gelebt und überlebt. Ihre Geschichten hängen wie Girlanden und Spinnweben in allen Ecken. Das Haus hat eine Seele, gewebt aus all diesen Geschichten, den erzählten und den verschwiegenen. In versteckten Nischen hängen unerfüllte Träume und ungelebte Möglichkeiten, aber auch Herzensangelegenheiten und Glücksmomente, die sich davor fürchten, ans Licht gezerrt zu werden. Zuviel Licht vertragen sie nicht. Sie könnten zerfallen und sich auflösen.
Der Wind verweht die Gardinen vor dem geöffneten Blumenfenster in der guten Stube und gibt den Blick frei auf die hinter dem Gartenzaun liegende Hauptstrasse, den Tante-Emmaladen und die Kneipe auf der anderen Strassenseite. Gerade ist Mittagszeit. Die Rinder sind bis zum Abend auf der Weide, die Schulkinder noch in der Schule. Die Arbeiter vom Steinbruch in der Nähe des Dorfes haben Pause. Die Transportlaster ruhen im Schatten des Waldes. Auf der Strasse ist es ruhig.
Das Haus ist solide gebaut. Es fürchtet weder Unwetter noch Sturm, nur das Feuer könnte gefährlich werden, denn in Scheune und Ställen liegt Stroh und Heu, leicht entzündlich für Feuerteufelchen.
Aber heute ist kein Gewitterwetter. Das Haus genießt die Mittagsruhe dieses freundlichen Tages und den Augenblick, der gleich schon vorbei sein wird. Das Haus hat den Birnbaum im Blick, dessen Früchte gestern noch Blüten waren und morgen schon eingekocht in Gläser im Vorrat lagern werden.

Zur Schule der Weg

die Haustür aus Holz  knarrt, heraustreten auf den Hof, den Hund begrüßen
er hieß Greif
über den Hof laufen, nach links dem Bürgersteig folgen, am späteren Garten entlang
Heiner treffen, er wartet schon
war schon eine Klasse weiter und blond
die kleine Straße überqueren, am Bäcker vorbei
es duftete nach frischem Brot
weiterlaufen mit Heiner
am Misthaufen vorbei bis zur Schmiede
sich bücken
und durch die schmutzigen Scheiben in den Kälberstall schauen
da bleiben wollen
Die Schulglocke läutet, es wird Zeit
ein paar Schritte noch und wir sind angekommen im grauen Geviert.
Klassenweise aufstellen bis der Lehrer kommt,
der mit uns den Klassenraum betritt
ich sitze links bei den Erstklässlern und Heiner rechts bei den Großen
Es wird still, Konzentration jetzt
Nach dem Morgenlied quietscht Kreide auf der alten Schiefertafel.
es riecht nach Kinderschweiß und Bohnerwachs.

Schreibeinladung für die Textwochen 43.44.19 | Wortspende von Café Weltenall

DAS BOOT

Einst wuchs ich unter einem hohen blauen Himmel, den ab und zu weiße Segelwolken kreuzten. Um meine Füße spülte Wasser. Mit meinen Geschwistern säumte ich am Rande der Insel einen sich weit ins Zentrum sich erstreckenden Meeresarm. Den Wolken sah ich sehnsüchtig hinterher. Ich wäre gerne mit ihnen geflogen, um weit über meine Grenzen hinaus die Welt in ihrer Fülle zu erleben. Ich wollte hören, wie die Möwen schreien und wie die Dorffrauen ihre Lieder singen, erleben, wie diese noch lange in mir nachschwingen, wenn der letzte Ton längst verklungen ist. Ich wollte sehen, wie Badegäste mit ihren Kindern am Strand Muscheln suchen und wie die Kormorane sich zu schwarzen Düsenjets organisieren, um gemeinsam auf Heringsfang zu gehen. Und da war noch so vieles mehr, für das ich keine Worte hatte. Als ich den ersten Vogelflug beobachten konnte, wusste ich, dass die Frauen am nächsten Tag kommen würden, um mich zu ernten. Man schnürte uns zu Bündeln und legte sie in einem dunklen Raum ab. Ängstlich fragte ich mich, was nun mit mir geschehen würde? War es in dieser Nacht, als ich den ersten Schrei eines neugeborenen Kindes vernahm? Einige Tage später wurden wir zu Booten geflochten und ans Wasser getragen, wo wir festgebunden auf dem Wasser dümpelten. Am nächsten Morgen, das Dorf schlief noch, legte jemand rohe Schafwolle und viele Decken in mich hinein. Eine Frau bestreute alles mit Rosenblüten und versteckte einen Brief zwischen der Wolle. Zwischen die Decken legte sie ein schlafendes Kind. Man band mich los und schon bald schaukelte ich auf den Wellen hinaus aufs offene Meer. Mein Traum ging in Erfüllung.

selbstbildnis 4

wo die vergangenheit geblieben ist… versteckt, vergraben, begraben
das kind im dorf auf dem hof erinnert: die pickenden hühner, der hofhund, die großmutter erbsen puhlend oder kartoffelschälend, fetzen, roter bohnerwachs zu mit atta geschrubbtem holz, der duft von wicken im sommer, wenn die kirschen reif sind, gemähtes gras,
dann lange nichts, filmriss…nur manchmal…schält sich aus dem kaffeesatz der zeit etwas nach oben, nimmt fahrt auf, wird überdeutlich.
das vergilben hat nicht stattgefunden…alles wie frisch gewaschen und vom wind getrocknet…perlen auf einer kette, die das gelebte leben zusammen halten und mit dem jetzt verbinden.

Zuhause

Mein allererstes Zuhause gibt es nicht mehr. Gemeinsam mit Eltern und Geschwistern verließ ich das Elternhaus meiner Mutter mit sieben, um fortan am Rande der Großstadt zu leben. Dort gab es neue Häuser und Arbeitsplätze. Viele Sommer bin ich in das Dorf meiner Kindheit  zurück gekehrt, um mich am Vertrauten zu erfreuen und letztendlich am alltäglichen Einerlei zu reiben. Mit siebzehn war auch das vorbei. Ich wollte nicht mehr und verbrachte die Sommerferien fortan fern der Familie. Ab und zu besuchte ich mein Heimatdorf, aber immer seltener und wenn ich da war, gehörte ich nicht mehr dazu. Ich hatte mich entfremdet. Oder hatte man mich entfremdet? Ich wurde nicht mehr in die Pflicht genommen, die Fremdengäste zu bedienen oder den Abwasch von fünfzig Mittagessen zu beseitigen.
Meine Tanten, die dort lebten und arbeiteten wurden alt. Ein Abgrund lag zwischen mir und ihnen, der nicht mehr mit Worten oder Gesten zu überbrücken war, aber wir taten so, als würden wir uns lieben, als seien familiäre Bande ewig unantastbar.
Eigentlich aber liebte ich das Haus mit seinem Garten, dem Kellergewölbe, dem Dachboden, den ich nicht betreten durfte. Vor allem aber liebte ich die Erinnerung an meine Kindheit an diesem Ort, die mir wie ein Märchen erschienen. Die Mitbewohner kamen darin nur am Rande vor. Es waren die kindlichen Träume, der Wechsel der Jahreszeiten mit seinen spezifischen Gerüchen, Ritualen, Tätigkeiten und Abläufen. Noch heute erinnere ich mich an den Geruch nach roten Bohnerwachs, mit dem die Holzdielen gepflegt wurden. Auch der Duft nach Heu auf dem Boden oder die tierischen Ausdünstungen aus den Ställen sind mir nicht entfallen.
Bis heute frage ich mich, warum die Menschen in diesem Haus für mich Vorrübergehende waren, an die ich mich zwar erinnere, die ich aber nicht vermisse.
Irgendwann starb auch die letzte Schwester. Zunächst wurde das Haus vermietet und vor zwei Jahren riss man es ab. Was mir geblieben ist, die Sehnsucht nach dem Ländlichen, das Leben mit den Jahreszeiten, die Verbundenheit mit der Natur und allem, was wachsen will und darf.
Mein zweites Zuhause gibt es noch, aber den Ort, an dem es steht, verachte ich. Ich muss mich immer wieder überwinden, dorthin zurück zu kehren, um mich um meine alte Mutter zu kümmern.
Der Ort an dem ich jetzt seit dreiundzwanzig Jahren lebe, ist nun mein wirkliches Zuhause. Wie wichtig es mir ist, spürte ich im letztem Jahr, als ich es beinahe verlor. Zum Glück ist es geblieben, und deshalb schaffe ich mir nun hier eine kleine ländliche Oase in meinem wilden Garten. Das tut mir gut und schafft Verbindung zu meiner Kindheit.
Ach, ich habe ja noch eine Art Zuhause gefunden. Ein kleines Dorf in der Vulkaneifel, in dem eine Freundin überwiegend lebt. Dort fahre ich so oft ich kann hin.
So habe ich mir das Dörfliche über die Jahre in mein städtisches Leben hinein geholt und die Landschaften meiner inneren „Heimat“ versöhnt.

Felicitas Sturm

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Zuhause ist doch eigentlich nur der Ort, vor dem man als erstes davonlaufen wollte.
Dann ist man endlich alt genug. Und flieht. Weit weg. Um endlich das Gefieder schütteln und die Flügel weit ausbreiten zu können.
Um endlich fliegen zu können.
Und wie man fliegt!
Ordentlich auf die Fresse.

Freiheit ist so schön.
Heimtückisch. Gefährlich. Anstrengend.
Und schön.

Die Sicht auf die Dinge ändert sich, von außen betrachtet.
Und dann kommt der Moment, in dem man wieder zurückkommt.
Nach Hause.
Das erste Zuhause.

Läuft an Blumentöpfen mit Paprikapflanzen vorbei, die doch schon immer dort gestanden hatten, aber selten interessant gewesen waren. Die Katze zuckt zur Begrüßung mit den Ohren, als wäre man nie fort gewesen. Der Kuchen wartet noch an derselben Stelle darauf, gegessen zu werden.

Noch immer sitzen die alten Vorwürfe, gemeinsam mit den verletzten Gefühlen, gemeinsam mit der Wut und der Enttäuschung, am Tisch.
Doch irgendwie werden sie…

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Burg Reifferscheid

Eigentlich hatten wir gar nicht vor, eine Burg zu besuchen, aber wie uns wieder einmal sehr deutlich wurde, ist der Weg das Ziel und bekanntlichen führen Umwege nicht selten zu ganz besonderen Orten und Menschen, wie an diesem Tag. Es sollte nach Monschau gehen, aber das Navi schickte uns in die Irre und wir landeten auf der Burg Reiffenscheid und ins hübsche Burgcafe „Till Eulenspiegel“ Eine, wenn ich mir das so richtig überlege, herrliche Narretei.
Was wir fanden, war ein kleines verwunschenes von Mauern umrundetes Burgdorf mit einem gut erhaltenen Burgturm. Viele Mauern, Nischen, tolle Perspektiven und Ausblicke.

Burg Reifferscheid

Schönheit