Wurzeln 16

Das alte Haus erzählt(1)

Das alte Haus schaut über den Hof auf den neuangelegten Garten. Spätsommerliches Licht streift Pflanzen, Bäume und Gebüsch, auch den kleinen Birnbaum mit den runden Früchten, die bald geerntet werden können. Die Duftwicken am Zaun sind voll erblüht. Auf dem Hof scharren die Hühner und gackern zufrieden vor sich hin. Der Hahn stolziert zwischen seinen Hennen. Im Vorgarten hat die Katze sich einen Sonnenfleck gesucht und lässt sich das Fell wärmen. Der Hofhund liegt an der Kette, denn gleicht kommt der Postbote, und den mag er nicht. Das Haus ist uralt. Viele Generationen habe darin gelebt und überlebt. Ihre Geschichten hängen wie Girlanden und Spinnweben in allen Ecken. Das Haus hat eine Seele, gewebt aus all diesen Geschichten, den erzählten und den verschwiegenen. In versteckten Nischen hängen unerfüllte Träume und ungelebte Möglichkeiten, aber auch Herzensangelegenheiten und Glücksmomente, die sich davor fürchten, ans Licht gezerrt zu werden. Zuviel Licht vertragen sie nicht. Sie könnten zerfallen und sich auflösen.
Der Wind verweht die Gardinen vor dem geöffneten Blumenfenster in der guten Stube und gibt den Blick frei auf die hinter dem Gartenzaun liegende Hauptstrasse, den Tante-Emmaladen und die Kneipe auf der anderen Strassenseite. Gerade ist Mittagszeit. Die Rinder sind bis zum Abend auf der Weide, die Schulkinder noch in der Schule. Die Arbeiter vom Steinbruch in der Nähe des Dorfes haben Pause. Die Transportlaster ruhen im Schatten des Waldes. Auf der Strasse ist es ruhig.
Das Haus ist solide gebaut. Es fürchtet weder Unwetter noch Sturm, nur das Feuer könnte gefährlich werden, denn in Scheune und Ställen liegt Stroh und Heu, leicht entzündlich für Feuerteufelchen.
Aber heute ist kein Gewitterwetter. Das Haus genießt die Mittagsruhe dieses freundlichen Tages und den Augenblick, der gleich schon vorbei sein wird. Das Haus hat den Birnbaum im Blick, dessen Früchte gestern noch Blüten waren und morgen schon eingekocht in Gläser im Vorrat lagern werden.

Ich hatte einen Traum

Es war einer jener Träume, die selten sind und die man nicht mehr vergisst. Diese besonderen Träumen erzählen mir etwas über mich, was ich bis dahin in seiner Komplexität noch nicht begriffen hatte, obwohl die einzelnen Puzzleteile schon lange vorhanden waren. In dieser Nacht war ich im Garten meiner Kindheit, genau an jenem Platz, an dem der Birnbaum mit den kleinen runden Birnen wuchs. Er war nicht besonders hoch, und ich pflückte die Grießbirnen schon als Kind gerne. Ende August wurden sie reif. Sie wurden nicht roh gegessen sondern eingekocht. Erst dabei entwickelte sich ihr unvergleichlicher Geschmack. Niemals mehr habe ich diese Birnen gesehen oder gegessen, nachdem Garten und Birnbaum aus meinem Leben verschwunden waren. Wüsste ich den Sortennamen, ich würde einen solchen in meinen Garten pflanzen. Sofort!
Zurück zum Traum, was hat er mir erzählt?
Mein innerer Ort ist ein Garten, in dem ein Birnbaum steht. Er ist von Hecke oder Mauer umgeben. In der Mitte ist ein tiefer Brunnen. Es ist ein Vorfrühlingsgarten, indem die Knospen beginnen sich zu regen und die Sonne erste zarte Farbtupfer in den Tag malt. Meine Farben sind: buttergelb, puderrosa, helllila, blassblau, zartgrün, silber, weiß und alle Grautöne. Es duftet nach dem letzten Schnee und dem ersten grünen Gras. Es ist eher das Ruhige und Verhaltene, was mich ausmacht. Mein Ziel ist der Weg.
Würde ich mein Lebensmärchen schreiben, alle genannten Facetten müssten darin enthalten sein.
Zurück zum Traum. Dort bin ich zurück gekehrt in meinem Kindheitsgarten, der schon längst verwildert und von (Un)Kräutern überwuchert ist. Trotzdem finde ich dort alle meine Farben und Düfte wieder. Ich weiß, dass ich den Garten an diesem Ort nicht behalten oder neu errichten kann. Aber meine Schwester ist bei mir. Sie nimmt eine Pinzette, pflückt vorsichtig Miniaturen von Kräuter und Blumen und pflanzt sie in eine kleine Schale. Sie drückt mir die Schale in die Hand und sagt: „Nimm sie mit. Und nun geh.“
Jetzt weiß ich, dass ich jene Samen in allen inneren und äußeren Gärten auspflanzen kann, die ich für mich – wo auch immer – noch finden oder anlegen werde. Und an jedem dieser Plätze werde ich neue Sämlinge mitnehmen können um die vorhandenen zu ergänzen und zu erweitern.

Habt ihr vielleicht ein ähnliches Bild im Kopf, dass euch überall hin begleitet und in dem ihr ausruhen könnt, wenn draußen alles zu viel und zu laut wird?