Trau dich…es gibt nichts zu verlieren(1)
Stell dir vor, du bist unterwegs auf einer belebten Einkaufsstraße in einer großen Stadt. Es ist später Nachmittag an einem lauen Vorfrühlingstag. Die Menschen kommen und gehen, schwatzen, rufen, schreien, lachen, strömen. Von rechts und links schlagen bunte Schaufenster auf dich ein, grölt Musik aus den Ladenlokalen. Der Leierkastenmann ist unterwegs, ein Musiker am Straßenrand singt und spielt – gar nicht mal so schlecht – Rockballaden. „the anser my friend is blowing in the wind…“
Vor ihm steht ein Hut für Münzen.
Du stehst schon neben dir, möchtest dir die Ohren zuhalten und die Augen schließen, bist vollkommen überfordert und willst nur raus aus der Stadt. Plötzlich erblickst du rechts in einer Seitengasse eine blaue Tür aus Holz. Du siehst sie und alles um dich herum ist plötzlich still, weil du intensiv ausgerichtet bist auf diese Tür. Warum hast du sie noch nie gesehen? Wer wohnt dort?
Du kennst die Tür. Sie ist dir schon im Traum begegnet, immer wieder. Du betrittst die Seitengasse. Hohe, eng beieinanderstehende Häuser nehmen sich gegenseitig das Licht. Abends muss es hier unheimlich sein. Eine Katze miaut, ein Säugling weint. Hinter allen Geräuschen ruft eine Mutter ihr Kind zum Essen. Du gehst wie in Trance auf die Türe zu. Sie ist in einem unglaublich leuchtenden Blau lackiert. Es erinnert dich an provenzalische Himmel, wenn der Mistral über den Horizont jagt und die Menschen unruhig macht. Du spürst diese Unruhe, bist aufgeregt, aber auch neugierig.
Die Tür hat kein Schloss, aber einen Briefkasten, der links daneben hängt im gleichen Blau. Ein Spruch steht darauf: „Trau dich … es gibt nichts zu verlieren. Da ist ein Türklopfer aus Kupfer, der die Form einer doppeltgehörnten Fratze zeigt. Soll das abschrecken?
Du fragst dich, was wohl geschehen wird, wenn du den Türklopfer bedienst?
Obwohl du aufgeregt bist und dir das Herz zum Halse herausschlägt, nimmst du all deinen Mut zusammen, versuchst die zögerlichen und ängstlichen Gefühle in Schach zu halten und nimmst den Türklopfer in die Hand.
Und erschrickst, denn der Türklopfer ist warm und fühlt sich an wie ein schrumpeliger Apfel. „Was ist das?“ Du lässt nicht los und klopfst, es klingt dumpf. Dann lässt du los. In diesem Moment hörst du von innen Geräusche: Eine Art Uhrwerk rattert los „Dingdingedongdongdingedong….“ Ein Klangspiel setzt mit unzähligen Glöckchen ein. Gleichzeitig nähern sich der Türe schwere Schritte. Du weißt nicht, ob du bleiben oder fliehen sollst. Aber du willst es jetzt wissen, was befindet sich hinter der Tür? Von innen wird ein Riegel zur Seite geschoben. Du hörst ein unverständlicher Singsang und die Tür öffnet sich knarrend einen Spalt weit. Du siehst nichts und schiebst die Türe vorsichtig, aber beherzt weiter auf, machst einen kleinen Schritt und stehst auf der Schwelle. Du schaust in einen dunklen Raum. Im hinteren Teil wirft ein verhangenes Fenster einen Hauch Helligkeit in den Raum hinein. Staub wirbelt darin. Langsam gewöhnst du dich an die Dunkelheit und nimmst Schatten und Gerüche wahr. Du schnupperst, riechst verwelkte Rosenblüten. Da ist aber noch etwas. Du kannst es kaum glauben und musst beinahe lachen.
Dir weht der Duft von frischgebackenem Brot und kräftigem Käse entgegen. Das Wasser läuft dir im Munde zusammen. Du hast Hunger.
„Komm herein, trau dich … es gibt nichts zu verlieren.“ spricht eine dunkle, spröde Stimme aus dem Hintergrund.
Du zuckst zusammen und blickst dich weiter um, tust weitere Schritte in den Raum hinein. Da ist ein Wesen im Raum. Du spürst seine Anwesenheit, siehst aber immer noch nichts. Das Wesen muss hinten rechts in der Ecke sein.
Zaghaft und leise fragst du:
„Darf ich wirklich? Es gibt viel was ich verlieren könnte.“
Von rechts hinten erschallt ein dröhnendes Lachen.
„Du bist vielleicht ein Angsthase, dabei hast du schon Mut bewiesen. Du hast den Türklopfer bedient und den Raum betreten.“
„Ich sehe aber nichts!“ sagst du.
„Dann schließe deine Augen, horche und folge meiner Stimme.“
Es fällt dir schwer, aber so kannst du dich besser auf die Stimme konzentrieren. Das Wesen wird fassbarer und wirkt nicht bedrohlich. Du schließt die Augen. Jetzt siehst du innere Bilder. Schneeflocken tanzen im Raum. Oder sind es weiße Blütenblätter? Etwas berührt sanft deine Hände, die Arme, Beine und Füße. Es zieht dich weiter in den Raum hinein.
„So, jetzt öffne die Augen wieder.“ weist dich die dunkle, spröde Stimme an.
Du öffnest die Augen und stehst im Wald. Es duftet nach Frühlingsgrün, nach Tannennadelsprossen, nach Walmeister und Holunder. Walderdbeeren riechst du auch. Es tut so gut. Schlagartig beruhigt sich alles in dir. Du möchtest nur noch ein- und ausatmen, einen Platz im Moos finden und dich ausruhen.
„Siehst du, du hast hier nichts zu verlieren.“
Du schaust hoch und blickst einer Kastanie ins Gesicht. Es ist ein altes, freundliches Gesicht mit einer langen Nase. An der Stirn entdeckst du zwei Fühler. Es könnten Antennen sein.
Vor dem Baum steht ein kleiner Tisch im selben Blau wie die Haustüre und ein dazu passender Stuhl. Auf dem Tisch steht ein Krug mit Wasser, ein Glas, Teller, Messer, der Käse und das Brot.
„Komm, bediene dich. Du bist hungrig und brauchst Nahrung für die Reise. Es ist erst der Anfang, weitere Türen werden folgen. Du wirst sehen, du hast nichts zu verlieren.“
Lieber hätte ich die Geschichte erzählt und aufgenommen. Leider weiß ich noch nicht, wie ich das bewerkstelligen kann. Die Geschichte ist gestern in der digitalen Schreibwerkstatt von Ursula Stroux entstanden. Wir suchen noch Mitstreiter:innen.