FrauSein

Erika, sie befand sich (wieder) auf ihrem Balkon und schaute in die Sonne. Sie stand fest auf ihren Füßen. Hinter ihr eine voller Unrat stehende Wohnung, grau, Spinnenweben. Sie drehte dem Unrat den Rücken zu, in der Hand eine kleine Tasche mit einigen Schätzen. Ein goldener Kamm, ein weißer Stein, ein vergilbter Brief und ein Foto ihrer ersten Liebe, ihres damaligen Liebsten.

Erika zogt Luft, frische klare Luft durch die Nase ein, den grauen Mantel Fest zugeknöpft gegen die das frische Kühl des Morgens. Die Sonnenstrahlen tanzen und Erika bemerkt zum ersten mal die Farben in der Luft und fühlt das Lachen, dass sich leise durch ihre Kehle herauf perlte. Sie ist mit allem gerüstet was sie für sich braucht.

Liebevoll schaut sie auf das kleine Mädchen neben ihr. Die Zöpfe frisch geflochten, den roten Mantel sorgsam verschlossen schaut Lisa zu ihr auf mit dem vertrauenden Blick. Hand in Hand begrüßen sie den Morgen. Erika straffte ihre Schultern. Ja, sie wusste, dass sieb beide gut durchs neue Leben bringen wird. Ein goldenes Band der Liebe verband die beiden, noch waren die Wunden und Einsamkeit der Lisa sichtbar.

Erika fand Lisa in ihrem eigenen Keller. Sie hatte das Kind aus den Augen verloren, vergessen und sich im Staub des Lebens eingerichtet. Jahrelang ihres bisherigen Lebens. Immer wieder begegneten ihr seltsam bunte Gestalten, die wollten ihr Dinge schenken. Sie mitnehmen. Doch Erika mochte nicht mit gehen oder etwa annehmen. Sie war, wie besagt, gut eingerichtet.

Doch dann nagte etwas in ihrer Erinnerung. Ein unerklärliches goldenes Staubkorn. Und das Nagen wuchs zu einem riesigen Hunger. Hunger: Alles was Erika in die Hände bekam wurde verschlungen: Pommes, Schokolade, Männer, Menschen, Fernseher. Sie blähte zu eine gigantischen, riesigen Spinne auf, die im Netz hockte. Sie wartete. Das Warten selbst wuchs zu einem Selbstzweck. Und eines Tages sollte das glitzernde Sandkorn aus dem Netz die Treppe hinunter in den Keller stürzen.

Träge und ächzend begann Erika den Abstieg, immer wieder eine Pause machend. Wolle sie wirklich in Keller? Die weiße Priesterin, hauchzart und durchscheinend, schwebte vom Dachboden zu Erika und legte ihr die weiße Feder in die Hand. In der Dunkelheit leuchtete sie aus sich selbst heraus. Zunächst versuchte Erika die Feder zu verschlingen, doch diese entzog sich im spielerischem Tanz. Erika erhielt auf diese Weise Licht, Trost und eine treue Begleiterin. Höflich glucksend stellte sich die Feder vor. Lydia wäre ihr Name und sie sei nicht verdaubar. Ob die dicke Spinne noch nie etwas von Leichtigkeit gehört hätte.

Merkwürdigerweise wurde die Lydia ein fester Anker als der Sturm über Erika herein brach. Gewaltsam entriss er ihr das Herz und die fetten Spinnenbeine und Erika begann sich aus ihrem harten, undurchdringlichen Panzer zu schälen. Sie fror, bekam Panik und zunächst noch mehr Hunger. Aber dann!!!! Sie hörte das Wimmern von Lisa, dem vergessenen, mageren und wirklich verhungertem Kind. Erika sowie Lisa beäugten sich misstrauisch und Erika lief, wie sie schamvoll zugeben musste, fort.

Die Priesterin nahm sie in die Arme. Und machte Mut, Lydia weiterhin zu folgen, welche bei Lisa geblieben war. Das goldene Band fing an sich langsam zu entrollen. Und das Grau der Wohnung bot nun keine Heimat mehr. Die ängstliche, inzwischen zur Frau entpuppte Erika musste eine Entscheidung fällen. Und die bereitete Schmerzen und Qual. Der Hunger wuchs unerträglich, aber der Appetit lies sie wählerisch werden. So fasste Erika sich ein Herz und sprang in den Keller, entriss Lisa dem Loch und zog sie mit sich in ihr schlampiges Nest zurück.

Lydia tanzte in den kalten Nächten für beide: Der Frau und dem Kind. Und dieser Tanz wärmte und sättigte ein wenig. Erika lernte Lisa kennen. Und mögen. Das goldene Band wuchs. Die Vorhänge wurden zur Seite gezogen, frisches Obst bestellt und beide lugten Neugierig hinaus.

Zunächst Nebel. Dann fremde Geister. Das Nest blieb real. Doch Erika spürte die Enge, den Tod. Lydia tanzte den Federntanz, lachte, kitzelte die beiden. Und Lisa wurde ein schönes, properes Mädchen. Und Erika wurde eine lebendige Frau. Die Priesterin wachte über die beiden. Bis die Alte kam und endgültig forderte, Erika müsse heraus aus der Wohnung oder wieder Spinne werden.

Entweder oder. Spinne sein hieße dass Lisa wieder in den Keller müsse. 7 Tage zog Erika sich zurück. Und dann kam sie wieder, kämmte Lisa zog sie und sich an, suchte ihre Schätze und trat mit ihr auf den Balkon. Hand in Hand.

Vertrauen.

Das Band der Liebe.

Den Schutz der Priesterin.

Die Klarheit der Alten.

Den Tanz der Feder.

Mehr brauchte das Leben nicht.

Erika und Lisa gingen zurück in die Wohnung. Erika verneigte sich vor dem Schmutz, dem Grau. Dankte ihm für den langjährigen Schutz. Dann tanzte sie mit ihrem Kind aus der Wohnung hinaus in pulsierende, lebendige Unbekannte.

Tage vergehen…

Jetzt bin ich schon eine Weile hier. Ich habe fast alle Räume des Hauses, das ich noch nicht „MEIN“ nennen mag, kennen gelernt, seine Größe ermessen, überlegt, wo ich mit dem Einrichten beginne. Bisher bewohne ich nur das Dachzimmer mit dem weiten Ausblick über Garten, Feld und Wald und die große Wohnküche.
In die Ecke mit den bunten Kissen habe ich mein Bett gebaut, daneben ein ausgemustertes  Bücherregal vom Flohmarkt gestellt. Ich kann mich noch nicht entscheiden, wie ich es einmal anstreichen werde. Einige Bücher, Notizhefte, CD´s und Zeitschriften liegen darin.
Jetzt wo ich Zeit habe und nichts mich drängt, stehe ich oft am Fenster und schaue dem Tag dabei zu, wie er vergeht, wie das Licht sich verändert, die Wolken ziehen, wann die Vögel im Garten sich ums Vogelhaus scharren und eine rotgestreifte Katze auf Beutezug geht.
Vor drei Wochen war noch Winter, jetzt sind die Tage länger geworden, und Frühling liegt in der Luft. Gestern zogen Kraniche über das Haus.
Ich habe noch einen Rest Rosentapete. Damit werde ich die schmale Fensterwand tapezieren. Die Küche ist noch fast leer. Ein paar wichtige Utensilien, etwas Geschirr, bunt zusammen gewürfelt, ein quadratischer Holztisch mit zwei Stühlen, meine Lieblingstopfpflanzen und ein Kühlschrank mit abgerundeten Ecken habe ihren Platz gefunden.
Im Raum nebenan, der eine Art Salon werden wird, möchte ich mir heute ein erstes Bild aufhängen. Das Bild ist Blau, wie so vieles, das ich gern habe, denn Blau ist für mich ein Lebensgefühl.  Ich liebe es in allen Nuancen. Eine ganze Galerie aus blauen Schattierungen wird dort entstehen.
Sparsam sind kleine Akzente in Weiß, Schwarz und in Gelb ins Bild gesetzt. Ich sehe Wasser und Himmel, die ineinander übergehen. Es zeigt einen Hafen an Fluss oder  Meeresbucht. Kleine Boote schweben auf dem Wasser. Ihre Lichter spiegeln sich darin. Am linken Rand sehe ich ein wolkenartiges Gebilde in Dunkelblau-Schwarz. Es könnte eine Trauerweide auf einer winzigen Insel sein.
Ich liebe Flusslandschaften und das Meer, mag mich gern in den Wellen des Wassers für Augenblicke verlieren. Wind und Wellen nehmen meine Gedanken mit und singen mir Lieder.