IVENACK, Tag 10

Blätterrauschen und Wellenschlagen

im Schatten der alten Bäume liegt Ruhe

und Zuversicht, die trägt und nährt

Gelassenheit, die ausstrahlt, sich vermittelt

und Besitz ergreift von jenen

die sich unter ihr Dach begeben

und es wirkt…

und wirkt…

und wirkt…

NICHT DIE BÄUME BRAUCHEN UNS, WIR BRAUCHEN DIE BÄUME!

Wurzeln 17

Das alte Haus, der Ort, an dem ich die ersten sieben Jahre mit meiner Großfamilie gelebt habe, ist ein beseeltes Geschichtenhaus. Obwohl es inzwischen abgerissen ist, bleibt es in meiner Erinnerung intakt. Es ist wie ein sicheres Gehäuse in meinem Inneren, in das ich flüchten darf, wenn alles zu viel wird, das ich jederzeit betreten kann, um Schätze zu suchen, nach Wurzeln zu graben oder Geschichten zu finden. Auch zum fantasievollen Geschichtenerfinden eignet es sich sehr. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich den Schlüssel zum ihm nicht verloren habe und auch dafür, dass ich mir ein Stück vom kindlich magischem Denken erhalten konnte.
1962 bin ich mit meinen Eltern in die Großstadt gezogen: Einfamilienhaus, Neubau. Das neue Haus hatte keine Seele. Es war weder belebt, noch hingen Geschichten darin. Von jetzt auf gleich gab es keine Großfamilie mehr, auf die ich zurückgreifen konnte. Die vertrauten Dorfbewohner, das Land, Garten, Wiesen, Felder, Stalle, Schuppen und Heuböden fehlten. Tiere hatten wir keine. Es war alles eng, das neue Haus für mich ein Puppenhaus. Angst umhüllte es, die Angst meiner Mutter, die uns vor allem beschützen wollte, um sich selbst vor all dem Neuen zu schützen, dem sie sich nicht gewachsen fühlte. Es war ein Kulturschock und zunächst einmal die radikale Beschneidung von Möglichkeiten.

Wurzeln 16

Das alte Haus erzählt(1)

Das alte Haus schaut über den Hof auf den neuangelegten Garten. Spätsommerliches Licht streift Pflanzen, Bäume und Gebüsch, auch den kleinen Birnbaum mit den runden Früchten, die bald geerntet werden können. Die Duftwicken am Zaun sind voll erblüht. Auf dem Hof scharren die Hühner und gackern zufrieden vor sich hin. Der Hahn stolziert zwischen seinen Hennen. Im Vorgarten hat die Katze sich einen Sonnenfleck gesucht und lässt sich das Fell wärmen. Der Hofhund liegt an der Kette, denn gleicht kommt der Postbote, und den mag er nicht. Das Haus ist uralt. Viele Generationen habe darin gelebt und überlebt. Ihre Geschichten hängen wie Girlanden und Spinnweben in allen Ecken. Das Haus hat eine Seele, gewebt aus all diesen Geschichten, den erzählten und den verschwiegenen. In versteckten Nischen hängen unerfüllte Träume und ungelebte Möglichkeiten, aber auch Herzensangelegenheiten und Glücksmomente, die sich davor fürchten, ans Licht gezerrt zu werden. Zuviel Licht vertragen sie nicht. Sie könnten zerfallen und sich auflösen.
Der Wind verweht die Gardinen vor dem geöffneten Blumenfenster in der guten Stube und gibt den Blick frei auf die hinter dem Gartenzaun liegende Hauptstrasse, den Tante-Emmaladen und die Kneipe auf der anderen Strassenseite. Gerade ist Mittagszeit. Die Rinder sind bis zum Abend auf der Weide, die Schulkinder noch in der Schule. Die Arbeiter vom Steinbruch in der Nähe des Dorfes haben Pause. Die Transportlaster ruhen im Schatten des Waldes. Auf der Strasse ist es ruhig.
Das Haus ist solide gebaut. Es fürchtet weder Unwetter noch Sturm, nur das Feuer könnte gefährlich werden, denn in Scheune und Ställen liegt Stroh und Heu, leicht entzündlich für Feuerteufelchen.
Aber heute ist kein Gewitterwetter. Das Haus genießt die Mittagsruhe dieses freundlichen Tages und den Augenblick, der gleich schon vorbei sein wird. Das Haus hat den Birnbaum im Blick, dessen Früchte gestern noch Blüten waren und morgen schon eingekocht in Gläser im Vorrat lagern werden.