Satz 15
„Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.“
(Joseph von Eichendorff)
Rhina erwachte erlöst aus dem Schlaf. In ihr sang noch ein Lied. Das Hochgefühl aus ihrem Traum hing noch unter ihren Liedern, lächelte und flüsterte zärtlich in die Gedanken. Rundherum wohlig fühlte sich der Körper an.
Was für ein seltsamer Traum. In einem dunklen Raum mit vielen Menschen, die alle mit irgendetwas beschäftigt waren und kaum den Blick erhoben, hörte Rhina Gitarrenklänge. Ganz hinten, dort wo es lichtlos war und nicht einmal Schatten eine Chance hatten, perlte es ihr entgegen. Und in ihr brach etwas auf, wollte hinaus und nicht länger gefangen sein. Sie sang ohne die Melodie zu kennen, ohne den Text vor Augen zu haben. Alles entstand aus dem Augenblick heraus und paarte sich mit den Perlentönen der Gitarre. Rhina, die immer sehr kontrolliert war und lange brauchte, um sich zu trauen, erhob die Stimme, stieß alles hinaus, was ihr die Kehle zuschnürte und was ihr schwer auf der Seele brannte. Die Worte kamen von selbst dazu. Ein Baum im Herbst kam darin vor, der seine Blätter abschüttelte. Ein leeres Vogelnest wurde vom Wind über die Straße gefegt. Rhina ließ sich frei, und es fühlte sich an wie ein Befreiungsschlag. Mit jedem Ton den sie sang, wurde sie selbstbewusster und strahlender. Schon verschwand sie nicht mehr in der konturenlose Masse der Menschen um sie herum. Ihre Gestalt wurde sichtbar. Es raunte und murmelte zustimmend um sie herum. Die Masse hob ihren Blick, erstaunt über das, was ihre Ohren von der unbekannten Sängerin zu hören bekamen. Rhina ließ ihre Stimme spielen in allen verfügbaren Oktaven, scheute auch Schräges nicht. Rau klang ihre Stimme, als das Lied endete.