Lieblingssatz 15

Satz 15

„Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.“

(Joseph von Eichendorff)

Rhina erwachte erlöst aus dem Schlaf. In ihr sang noch ein Lied. Das Hochgefühl aus ihrem Traum hing noch unter ihren Liedern, lächelte und flüsterte zärtlich in die Gedanken. Rundherum wohlig fühlte sich der Körper an.

Was für ein seltsamer Traum. In einem dunklen Raum mit vielen Menschen, die alle mit irgendetwas beschäftigt waren und kaum den Blick erhoben, hörte Rhina Gitarrenklänge. Ganz hinten, dort wo es lichtlos war und nicht einmal Schatten eine Chance hatten, perlte es ihr entgegen. Und in ihr brach etwas auf, wollte hinaus und nicht länger gefangen sein. Sie sang ohne die Melodie zu kennen, ohne den Text vor Augen zu haben. Alles entstand aus dem Augenblick heraus und paarte sich mit den Perlentönen der Gitarre. Rhina, die immer sehr kontrolliert war und lange brauchte, um sich zu trauen, erhob die Stimme, stieß alles hinaus, was ihr die Kehle zuschnürte und was ihr schwer auf der Seele brannte. Die Worte kamen von selbst dazu. Ein Baum im Herbst kam darin vor, der seine Blätter abschüttelte. Ein leeres Vogelnest wurde vom Wind über die Straße gefegt. Rhina ließ sich frei, und es fühlte sich an wie ein Befreiungsschlag. Mit jedem Ton den sie sang, wurde sie selbstbewusster und strahlender. Schon verschwand sie nicht mehr in der konturenlose Masse der Menschen um sie herum. Ihre Gestalt wurde sichtbar. Es raunte und murmelte zustimmend um sie herum. Die Masse hob ihren Blick, erstaunt über das, was ihre Ohren von der unbekannten Sängerin zu hören bekamen. Rhina ließ ihre Stimme spielen in allen verfügbaren Oktaven, scheute auch Schräges nicht. Rau klang ihre Stimme, als das Lied endete.

Lieblingssatz 14

Satz 14

„Als elfe ihre Sprüche eben getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen war….“ (aus dem Märchen „Dornröschen“)

Jetzt wird es spannend.

Der oder die13. zu sein, herauszutreten aus dem Reigen der wohlmeinenden Geister gutbürgerlicher Gesinnung und Farbe zu bekennen, zu sagen was zu sagen ist, das eigene Gekränktsein zu verbalisieren, statt es in sich hinein zu fressen, ist ein mutiger Akt. Ob Rache so radikal sein muss, wie im Märchen „Dornröschen“ ist eine andere Frage. Die 13. geht ihren Weg mit aller Konsequenz. Fortan gilt sie als böse Fee. Das ist der Preis. Ausgegrenzt zu sein. Oder war sie das bereits vorher? Negative Gefühle zu benennen, Rachegelüste zu äußern ist bis heute nicht gern gesehen, also erstickt so manche(r) lieber an der eigenen Bitterkeit. Doch auch das rächt sich. Wer mit seinen „negativen“ Gefühlen nicht umgeht und sie verdrängt, lebt psychisch nicht gesund. Ich mag die 13. Fee, denn sie ist der Dorn im Auge des Betrachters, der Reibepunkt und die Chance, ehrlich mit sich selbst zu sein.

Lieblingssatz13

Satz 13

Die Bäume im sonnigen Garten
„Er schuf den Himmel, die Erde!“
Die Schlangen lauschen dem Flötenlied
In den Bäumen mit Tanzgewändern“

aus einem Gedicht von Asaf Halet Elebi
(Sammlung: „Nimm eine Rose und nenne sie Lieder – Poesie der islamischen Völker- übersetzt von Annemarie Schimmel)

Ich fand die Göttin tief in meinem Schoß
an einem besonderen Tag, in einer besonderen Zeit.
Sie schwebt auf einer Lotusblüte über dem Wasser und gebietet über die weißen, heilenden Schlangen.
Mit Flötentönen der Nay lockt sie die Schlangen aus ihrem Korb,
mahnt, nicht zu säumen und ihr heilendes Werk auch in mir zu tun.

Ich schau der Göttin in die Augen, nenne sie Ana.
Im Blick zwischen uns beginnt es zu kreisen, verliert sich Zeit.
Derwische tanzen mit den Gestirnen. Das Universum kreist mit.

Bis alles kreist, Gestalt und Form verliert und Grenzen fallen.

Lieblingssatz 12

Satz 12

„Den Duft malte Monet
Äpfel gereift bei Ce´zanne
den Wein brachte die Flaschenpost“

(aus „Einladung“ von Rose Ausländer)

Das passt zum Herbst.
Die Regenkatzen sind schlafen gegangen.
An ihren heimlichen Plätzen träumen sie von Sonne und Sommer.
Wie sie da so eingerollt liegen ihren Träumen hingegeben
so möchte ich mich zu ihnen geselle
Seite an Seite, ihrem warmen Fell nahe
und nach dem bunten Herbst voller Farbe und Duft
den nächsten Winter verschlafen.

Lieblingssatz 11

„Vielleicht ist der Baum ja wirklich ein Mensch. Ein verzauberter…“ aus „Weißer Rabe, schwarzes Lamm“ von Jovan Nicolic´(Taschenmesser)

Ich sehe sie vor mir auf der Lichtung:
Bäume unterschiedlicher Art und Größe.
Stumm kommunizieren sie, tragen unterschiedliche Minen in ihren Gesichtern.
Das Zwielicht verstärkt das Verwunschene.
Im Wind schaukeln sie.
Die Birken tanzen. Zweige berühren sich.
Umarmungen.
Zwei raufen miteinander.
Einige wirken in ihrer Zweisamkeit miteinander verschlungen und eins.
Es könnten verzauberte Menschen sein…

Ich gehe in die Mitte und spüre ihre Präsenz.

Lieblingssätze 10

Satz 10

„Die junge Katze, die hier alles zum ersten Mal sieht, sie stand auf der Küchentreppe und witterte lange hinein.“

„Regenkatze“ von Sarah Kirsch (12.9.2003)

Mucksmäuschenstill schleicht sich Ida aus der Schlafetage die Treppe hinunter. Sie braucht kein Licht, findet den Weg blind. Ihre Füße tasten sich vorwärts. Die Erwachsenen dürfen sie nicht hören und sehen. Ida fürchtet, dass Mama schimpfen wird, wenn sie das Kind entdeckt. Es ist dunkel und Schlafenszeit. Im Haus sind die Stimmen erstorben. Nur die Uhr im Flur tickt laut. Aber es riecht so gut aus der Küche, nach Bratkartoffeln und Speck. Ida läuft das Wasser im Mund zusammen. Das späte Nachtmahl ist für die beiden Onkel bestimmt, die nach der harten Arbeit in Feld und Stall großen Hunger haben. Ida findet das ungerecht, sie muss sich abends mit einem Butterbrot begnügen. Heimlich hofft sie, dass in der Pfanne auf dem Kohleherd noch ein paar Schrieben geblieben sind, und die will sie jetzt naschen.

Jetzt hat sie das Ende der Treppe erreicht, ist im Flur angekommen. In der Küche brennt kein Licht mehr. Leise öffnet sie die Tür, geht zum Herd. Und tatsächlich, da ist noch ein Rest vom ausgelassenem Speck. Schnell in den Mund damit, Ida ist selig, und dann wieder zurück ins Bett.

Glück gehabt, niemand hat sie entdeckt.

Lieblingssatz 9

„fern und fremd singt ein lied in mir
tonfolgen anderer leben“ aus“Apfelbaum“ von Agnieszka Lessmann (Fluchtzustand)

Nie musste ich flüchten, doch oft bin ich geflüchtet vor den Tonspuren ferner vergangener Zeiten, die mir Heimweh bescherten.

Herausgerissen aus dem Dorf meiner Mutter und eingepfercht in die Stadt meines Vaters, hätte ich mir verloren gehen können, doch nun leben zwei Seelen in meiner Brust.

Meist vertragen sie sich gut. Oft kooperieren sie, aber manchmal, wenn die Geräusche draußen zu laut werden oder Menschenmassen überfluten, dann entstehen schmerzliche Dissonanzen. Schräge Geigentöne, zerrissene Saiten.

Ich stopfe mir die Ohren zu und leiste dem Apfelbaum vor meiner Tür Gesellschaft.

Lieblingssatz 8

„Ich höre ihre leise Stimme- lange Sätze voll Musik und Ruhe, wie ein Ruder, das in seinem Bogen über dem Wasser schwebt- tropfendes Silber.“

(„Fluchtstücke“ von Anne Michaels“

Lange Sätze hat meine Oma mit mir nicht gesprochen. Ich war zu klein. Aber die Melodie ihrer Stimme hat sich mir eingeprägt. Still, getragen und beruhigend.

Es gibt Stimmen, die ich nicht vergesse. An Stimmen erkenne ich Menschen auch nach Jahren noch wieder, während ich mir Namen nicht immer solange einprägen kann.

Im Gegensatz zum Alt meiner Oma ist meine Stimme der Sopran. Manchmal denke ich, hätten wir zusammen gesungen, es wäre ein Wohlklang gewesen.

Wenn ich an Omas Stimme denke, dann entsteht ein Bild vor meinem inneren Auge: Silberne Regentropfen die an einem Novembertag sanft und sacht in einen See tropfen, um dort Kreise zu bilden, die sich in die Unendlichkeit ausdehnen.

Lieblingssätze 7

„Oma spricht nicht. Sie schaut nur, während sich ihre Hände bewegen.“ (aus meinen eigenen autobiografischen Notizen)

Meine Oma starb, als ich 9 Jahre alt war. Meine ersten sieben Lebensjahre wohnte ich mit Mutter und Geschwistern in ihrem Haus. Sie hat nie viel gesprochen, aber nichts entging ihren Blicken. Fast immer waren ihre Hände in Bewegung, tätig, nebenbei aber unermüdlich. Nur wenn der Herr Pastor zu Besuch kam und sie beide, abseits des alltäglichen Trubels, im guten Wohnzimmer Platz nahmen, lagen die Hände gefaltet in ihrem Schoß. Ich lausche dem leisen Gespräch, ohne zu verstehen. Die Klangmelodie ihrer beiden Stimmen – meine Oma hatte eine schöne Altstimme- legte Frieden und Ruhe in den Raum. Ich fühlte mich behaglich und sicher in ihrer Nähe. Etwas Zeitloses lag im Raum während Staubkörner im Licht tanzten und ich am Esstisch saß und meine Hausaufgaben erledigte. Ich liebte meine Fibel und wollte immer weiter lesen. Das konnte ich zunächst aber nur laut. Oma mahnte mich, leise zu lesen.

Die Präsenz meiner Oma und ihre Stimme, die sich selten erhob, gaben mir Halt und Sicherheit, waren mein eigentliches Zuhause.

Lieblingssätze 6

„Nichts geht verloren in verwunschenen Hecken

lauschend, raschelnd im Dickicht, in der Watte der Stille.“

(Wilhelm Fink in einer Notiz an mich)

Das ist Essenz. Ich schmecke noch den Geschmack wilder Beeren auf meiner Zunge.

Wenn ich meinen inneren Garten betrete, ist es still. Nicht absolut still. Herzschlag und das Rauschen des Blutes in meinen Adern höre ich ja, solange ich lebe.

In den Hecken um meinen wilden Garten rascheln die Blätter. Bienen summen, Vögel zwitschern, höre ich unser helles Kinderlachen, Bruder. Zeitlosigkeit, das Hinausspringen aus dem Gefüge von Sekunden, Minuten und Stunden.

Du musst dabei gewesen sein, damals unter den Hollunderbüschen im Heckenrund. Für mich eine Laube des Glücks, ein geheimer Platz mit duftenden Blüten, dichtem Laub und schwarzen Beeren, die so herb schmeckten, dass mir übel wurde und ich alles ausspeien konnte, was mir schwer auf dem Magen lag.

An den Dornen blieb so manches Fädchen hängen. Den Blicken entzogen, mit mir allein selig. Aus Ästen und Zweigen wuchsen Geschichten und in die Blattachsen hängte ich meine Träume.

Du musst dabei gewesen sein, selbst ein Kind.

Verschobene Zeitebenen. Aber was ist Zeit, wenn doch in manchen Momenten alles gleizeitig zu sein scheint?

Ich glaube, die Heckenwesen sind findige und begabte Hexen und Zauberer. Sie bringen zusammen, was sich fügt. Sie halten alles fest, damit nichts verloren geht. Sogar uns, mit dem einstigen Kinderlachen.