Lieblingssätze 4

Aus dem Buch „Jahre mit Martha“, das im Kölner Stadtanzeiger MAGAZIN vorgestellt wurde und nun auf meiner Buchliste steht. Autor: Martin Kardic´

„Meine Geschichte will ich erzählen, weil ich glaube, dass wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land.“

Über mich und diese Stadt, möchte ich erzählen, in die ich aus dem ländlichen Paradies meiner Kindheit vertrieben wurde.

Krass ausgedrückt, aber so kam es mir damals mit sieben Jahren vor. Alles fremd, keine bekannten Gesichter. Ein Puppenhaus zum Leben, in dem es viel zu eng war, mit Mauern darum herum, aus denen meine Mutter mich nur entließ, um zur Schule zu gehen. Das Haus war nicht wirklich klein, hatte einen Garten und vor der Haustüre einen Weg, auf dem die Kinder aus der Straße sich treffen, miteinander spielen oder raufen konnten. Aber im Gegensatz zu dem Bauernhof auf dem Lande, mit den vielen Zimmern, Ställen, Hofgebäuden, Tieren, dem großen Garten, der Obstwiese, den Feldern und der lebendigen Dorfgemeinschaft war nicht nur mein Bewegungsraum eingeschränkt, sondern auch der Erfahrungsraum. Die größte Mauer aber war die Angst meiner Mutter, die mich vom Außen trennte. Es dauerte Jahre bis ich den Ausgang fand.

Lieblingssätze 3

„Und der Wind fing sich in den Rändern des Vorhangs an meinem Fenster. Dort hielt ich Wache, aufmerksam für das Kleine, das bei wachem Auge monströs und schön werden konnte.“ (Patti Smith: Traumsammlerin“

Wäre ich der Wind, so würde ich dir heute eine zärtliche Brise schicken. Du würdest mich auf deiner Haut spüren, dich heimlich daran erfreuen und vielleicht ein wenig Kichern, weil es kitzelt. Du würdest ein zartblaues Blatt Papier aus deiner Wunschkiste ziehen, ein zierliches Boot falten und es meinen Flügeln anvertrauen. Mit staunenden Kinderaugen würdest du hinterherschauen, wie es davon segelt. …

Du würdest selbst zum Boot werden, bereit eine große Reise ins Abenteuer zu starten. Und du wärest glücklich über mein Geschenk.

Denn es ist der Anfang von etwas, dass dich aus der Erstarrung löst und dir den Mut gibt, über dich hinaus zu wachsen.

Lieblingssätze 2

„Alle Familien haben ein Gedächnis, das über die Erinnerung des Einzelnen hinausgeht“ (Piccola Sicilia v. Daniel Speck)

Mariana öffnet die gläserne Tür hofft, dass diese sie zum Kern des Gebäudes führt. Das Haus, in dem sie sich bewegt , gleicht einem Labyrinth. Vertraut und fremd zugleich. Gefühle tauchen auf, vergehen wieder oder bleiben; klingen unangenehm nach, schmecken bitter. Die gläserne Tür führt in einen verspiegelten Raum. Zahllose Duplikate ihrer selbst; unterschiedliche Blickwinkel lauern und blenden. Wer ist sie? Wo geht es lang? Einem inneren Impuls folgend geht sie auf den Spiegel zu, der ihre roten Schuhe betrachtet.

Das Herz schlägt schnell, fürchtet sich vor dem Zerspringen.

Sie muss hindurch. Einzig fassbar die roten Schuhe, die Richtung anzeigen.

Lieblingssätze 1

„Es gibt Zeiten, in denen sich die Grenzen zwischen dem Ich und der Welt auflösen.“ („Piccola Sicilia“ von Daniel Speck)

Die Zeit wird zur Ewigkeit, verliert ihr Gefüge.

Schweigend steht Ina vor dem geöffneten Fenster und schaut in den Apfelbaum. Sie ist erschöpft, schließt die Augen. Nur die Ohren lauschen. Gesang in den Zweigen, Blätterrascheln im Wind, Taubengurren, spielende Kinder auf der Strasse, ein Mensch, der vorrübergeht und einen Rollkoffer hinter sich herzieht,…..

Sie verliert sich in Geräuschen und lässt von sich ab. Nichts steht zwischen ihr und der Welt. Alles wird eins, fließt und strömt im gleichen Rhythmus, tanzt zur gleichen Melodie.

Leise wird es und dicht. Schwerelosigkeit für einen langen Augenblick .

Bis Ina zurückkehrt in ihre Haut, Tauben und Wind wieder hört und das langsame Pochen des eigenen Herzens. Sie öffnet die Augen – erfrischt und erholt.

Der Sommer will nicht enden

In diesem Jahr scheint der Sommer nicht enden zu wollen. Was ist los? Rumpelstilzchen aus dem Märchen ist außer Kontrolle geraten und die Regentrude liegt wohl im Sterben. Ob ein verzauberter Frosch sie noch wecken könnte? Packen wir die Regentrommel aus und trommeln gegen den ewigblauen Himmel an.

Und trommeln wir uns auch selber wach, denn es ist Zeit, in uns selbst etwas zu ändern, damit neue Bäume in den Himmel wachsen können und unsere Enkelkinder in ihrem Schatten ausruhen dürfen.

Oh, und mir fällt ein, meine Geschichte von den sieben Türen will weiter geschrieben werden, gerade da, wo ich vor zwei Monaten stehen geblieben bin:

bei dem Wald , der um eine zerstörte Stadt in den Himmel wächst, um den Menschen wieder Hoffnung zu geben. Ich kann nicht warten, bis es irgendwann einmal Spätsommer oder Herbst geworden ist.

zwitschern die vögel dir schon vom herbst/ zwischen hagebutten und trockenen gräsern/wenn das licht tiefer steht und abgeerntete felder vergoldet/ wenn der ausklingende sommer den in die jahre gekommenen frauen feenbärte malt/so jenseits der gezeitenwechsel finden sie zur neuen stimme/ sind ganz eins mit monat, zeit und jahr/nicht mehr fern von sich im zentrum angekommen/in eigenen gärten erntend

aurora

Juno 2014
Ich weiß nicht, was da gerade in der Luft schwirrt unter dem hohen Lerchenhimmel. Was Konturen gewinnt und ich noch nicht so ganz geortet habe, widersetzt sich jeder Traurigkeit. Aufbruch ruft alles, einmal die Erde umkreisen, durch Urwälder streifen, den höchsten Gipfel erklimmen, Ozeane durchschwimmen, nein – in sie abtauchen – und die andere Seite des Mondes betrachte. Die Perspektive wechseln. Wie die Welt von dort wohl aussieht? Die Göttin Juno lässt grüßen. So finde ich mich mitten in diesem Tag, der Sommer trägt und weiß, es ist eine gute Zeit um aufzubrechen. In diesem Sinne grüßt dich in aller Kürze -ja zwischen zwei Buchstabenjonglierversuchen – und für diesen einen Augenblick, der sich niemald wiederholen wird, Aurora

Juno 2022
Vielleicht wieder ein Aufbruch im Juno. Türen öffnen sich, neue Perspektiven wollen erkundet werden. Noch einmal ganz neu beginnen, und das in diesen Zeiten, in meinem Alter? Eine Frage, die Aurora umtreibt und deren Antwort schon wie ein heimliches Versprechen in der Luft liegt. Süß, mit einem Hauch vn Bitter. Sie muss nur aufs Seil und sich recken. Ob sie das wohl noch schafft? Und schon liegt die Antwort auf der Hand. Gerade jetzt, wo die Welt am Abgrund steht zählt doch jeder Tag, der in Stille und Gelassenheit zelebriert werden möchte und an dem etwas gesunden und heil werden kann.

Ivenack, 6. Tag

Was mich berührt:

der Lichtstreifen, der sich morgens in den Schlosspark legt
und einige der Baumriesen beleuchtet

die Vielzahl der riesigen Bäume, die Ruhe und Großartigkeit ausstrahlen

die Stille der Landschaft mit ihren sanften Hügeln und den Baumalleen

die Dorfkirche aus Backstein, das gepflegte Rund auf dem sie steht, die Grabsteine, die in ihrem Schatten ruhen und die einladende Stille, die sie ausstrahlt

dass die Zeit hier scheinbar langsamer vergeht und dem Werden und Wirken Zeit lässt

die vielen Zeugnisse lebendiger Kunst und Kultur

dass die vielen Bäume nicht nur Schutz und Schatten spenden, sondern ein Mikroklima schaffen, in dem sich gut durchatmen lässt

IVENACK, Tag 5

Neustreliz, Schlosspark

Meditatives Parkbankgeflüster

1. ein Hund bellt
jemand fegt einen Weg
Autoverkehr ganz weit weg
raschelndes Laub
ein leises Plätschern vom Brunnen
Schritte auf Kieswegen
neben Vogelgezwitscher und Taubengurren
Stimmen schweigen, wie der Mann gegenüber
der auf der Parkbank liegt und döst

2. mit geschlossenen Augen Grün riechen und Süße
hinter der jungen Lindenallee, ausgewachsene Bäume
sanft singt der Wind in den Blättern

3. Oben, weißer Himmel
mit blauen Flecken
Wolken raufen und zerren, eilen
fliegen davon, finden sich wieder

4. der weiße Engel aus Marmor schaut zum Himmel
hebt links den Siegerkranz empor
und rechts ein Palmwedel unter den Arm geklemmt oder ist es eine Feder?
eine weibliche Gestalt
die lose fallende Kleidung fällt über nackte Füße
verhüllt kaum die rundlichen Körperproportionen
das Gewandt gleitet beinahe von der Schulter
wären da nicht die Flügel
eine schöne Frau auf der Höhe ihrer Kraft wäre zu sehen
die ihr Haar sorgfältig im Zopf gebändigt hält

5. eine Art Hecke
Dreiecke aus Draht
die wildem Wein als Kletterhilfe dienen
begrenzen das langgestreckte Beet
ein Band aus dunkelvioletten Stiefmütterchen
rahmt Frauenmantel ein
In der harmonischen Schlichtheit
liegt Bescheidenheit und Ästhetik

6. nicht viele Besucher am letzten Dienstag im Mai
eine Frau mit knallroter Jacke
führt zwei Hunde spazieren
Das ROT irritiert mein Auge
inmitten dieser Symphonie aus Grün

7. Das Schloss steht nicht mehr im sternförmigen Park
eine Leerstelle
zwischen Schlosskirche, Orangerie, Theater und Freilichtbühne
die an die alte Pracht erinnern

8. Und zum Schluß
nach dem Gang durch Buchen-und Buchsbaumhecken
der Blick auf zwei Titanen:
ausladende, hochgewachsene Blutbuchen
mit einem Dach aus weitverzweigten Ästen
unter dem es sich gut aushalten lässt

IVENACK, Tag 1

Landschaften 1

Ein gelbgrünes Band, sonnengetupft
Wellen, flach und fortlaufend
schier unendlich
unter einem Himmel
an dem graue Wolken eilen
sich verdichten, auseinanderstreben
und blaue Flecken freigeben
Baumreihen zeichnen Linien
in Feld und Flur
die Kastanienallee zum Haus
bald blühen die Kerzen
Bühne frei, für ein Frühsommergedicht
gereimt aus Wind, Schatten und Licht