Olga ist traurig. Der Tag war beschwerlich. Einer dieser grauen Tage, die in Nässe versinken und deren Feuchtigkeit einen bis auf die Knochen frieren lässt. Nichts Erfrischendes hat der Regen, grünen Grasgeruch trägt er heute nicht mit sich. Wütend gießt er seine Massen über Stadt und Land.
Heute ist Olga nicht zu ihrem täglichen Spaziergang durch die Stadt aufgebrochen. Bei diesem feuchten Wetter quält sie die Arthrose im Knie. Jeder Schritt schmerzt und erinnert sie daran, wie alt sie schon ist. Das Telefon hat nicht geklingelt und auch im Briefkarten fand sich weder Brief noch Kartengruß. Auf den Straßen vor dem Haus ist nichts los.
Es tröstet Olga, dass draußen die Osterglocken blühen und mit ihrem Gelb wenigstens ein wenig gute Laune verbreiten und daran erinnern, dass Hoffnung auf Frühling besteht.
Während der Regen zornig auf das Dach trommelt und die Tauben das Gurren eingestellt haben und sich ducken, kocht Olga Tee. Etwas Wärmendes muss her. Und, fällt ihr ein, da muss im Küchenbuffet auch noch sahnige Milchschokolade sein. Allein der Gedanke daran, wie die Schokolade auf der Zunge zerschmelzen wird, hebt Olgas Laune. Gleich wird ihr etwas wärmer. Als der Tee fertig ist und den Raum mit appetitlichen Apfel-Zimt-Duft füllt, geht sie zum Schrank und sucht die Schokolade. Dabei fällt ihr Blick auf Großvaters alte Zigarrenkiste. Die Frau nimmt Zigarrenkiste und Schokolade mit an ihren Lieblingsplatz. Neben dem gemütlichen Ohrensessel steht ein kleiner runder Tisch, auf dem schon der Tee wartet. Olga schließt die Augen, nippt am heißen Tee, bricht ein Stück Schokolade vom Riegel und steckt ihn in den Mund. Wie gut der schmeckt, köstlich. Danach öffnet sie den Deckel der Zigarrenkiste. Alte Fotos liegen darin. Kleine Schwarz-Weißfotos, vergilbt und mit Zackenrand. Ein Foto schaut sie sich genauer an.
Da ist das Kind, dass sie vor langer Zeit einmal war. Es spielt versunken und ganz konzentriert auf das eigene Tun. Nichts anderes ist wichtig. Die Zeit hat noch keine Bedeutung für das Kind. Es hockt auf dem Fußboden . Malstifte liegen da und viel Papier, sehr viel Papier.
Olga erinnert sich genau an diesen Tag im Frühsommer. Nebenan in der Küche klappert Geschirr. Die Mutter kocht Suppe. Draußen ist es noch hell. Winzige Staubkörner wehen als Lichtpunkte durch den Raum. Es duftet nach gebratenen Zwiebel, Gemüse und Hühnchen. Von nebenan perlt Musik herüber. Frau Hamacher spielt Klavier, wie an jedem Nachmittag.
Das Kind malt ein Haus und einen Baum. Darin sitzt ein Vogel und pickt an den grünen Äpfeln. Es malt eine lachende Sonne.
Das Kind nimmt ein neues Blatt, malt einen Acker und Ackerfurchen. In die Mitte malt es eine große Pfütze. Der kleine Bello von gegenüber mit seinen weißen Locken rennt über das Feld, auf die Pfütze zu und springt hinein. Es spritzt.
Die kleine Olga rennt zum geöffneten Fenster und klettert hinaus. Sie läuft durch den Garten und an den Obstbäumen vorbei zum Feld. Vielleicht ist die Pfütze noch da, und vielleicht badet Bello gerade wieder darin.
Da ruft die Mutter: „Olga, kommst du? Wir wollen essen.“ „Schade, denkt Olga, warum nur ist es schon wieder so spät?“
Die große Olga lächelt. Sie hat Freude an dem kleinen Ich, das sie mal war und das immer noch in ihr steckt.
Lange hat sie nicht mehr gemalt, aber Buntstifte hat sie noch und Zeichenpapier. Nachdem sie alles zusammen gesucht hat, legt sie los.
Die Zeit hat plötzlich keine Bedeutung mehr. Auch der Regen des grauen Tages wird unwichtig. Über den Rand des Papiers hinüber reicht sie der kleine Olga die Hand. Klein ist die Hand und warm.
Wunderschönes Stimmungsbild…Es macht viel Hoffnung auf Gutes, das da kommen möge…
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Das freut mich!
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