Irgendwo auf einem Bahnsteig, nachmittags um 16 Uhr
Breitbeinig versucht sie den Bahnsteig zu überqueren. Langsam und vorsichtig mit kleinen Schritten. Immer in der Mitte zwischen den Gleisen. Mit den Armen, seitlich weggestreckt, balanciert sie sich aus.
In der linken dem Herz zugewandten Hand hält sie eine Flasche Bier.
Die großen Taschen ihrer Jacke beulen sich aus unter der Fülle weiterer Flaschen.
Sie singt Fragmente eines mir unbekannten Liedes.
Melodie und Stimme klingen wie ein altes verheddertes Tonband, das sich zum Ärger des Hörers im Kassettenrecorder nicht mehr richtig abspult.
Vielleicht ein Ohrwurm aus vergangenen Zeiten? Erinnerungsträchtig, übervoll von Emotionen?
Die Frau schaut niemanden an.
Der Blick ist auf die Rolltreppe gerichtet, als sei diese der feste Grund, den man endlich nach langem Kampf erreicht, wenn der gefährliche Sumpf durchschritten ist.
Als der Zug einfährt, hat sie es fast geschafft.
Welcher Sehnsucht sie mit ihrem Lied wohl folgt oder welcher zerstückelten Liebe sie sich erinnert?
Wer weiß das schon, vielleicht nicht einmal sie selbst.
Mich erinnern diese Menschen immer an einsame Inseln im Menschenmeer, anders als die anderen, zwischen ihnen, aber selten mit ihnen.
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