…daran erinnert sich Marie noch.
Viele Stufen steigt sie hinab in die dichter werdende Dunkelheit. Sie folgt dem Rhythmus der Trommeln, der dem Pulsschlag der Erde gleicht. Bedrängend schraubt er sich in ihre Ohren, legt sich auf die Haut, bis sie im Gleichklang vibriert. Irgendwann kann sie nicht mehr unterscheiden zwischen ihrem eigenen Puls und dem der Erde.
Innen und Außen sind beinahe gleich. Wo hört sie auf, wo fängt sie an? Sie weiß, dass sie eine Aufgabe zu erfüllen hat. Kein anderer Gedanke hat Platz in ihrem Kopf.
„Was war das noch?“
fragt sich Marie, während sie die Dunkelheit der Erinnerung zu lichten versucht.
Die Feuergnome warten. Weiter steigt sie hinab in das Innere der Erde. Gewölbe aus Stein schwitzen einen erdigen und mineralischen Geruch aus.
„Komisch“ denkt Marie, „ich erinnere mich, dass ich zwischendurch an Kohle und Kartoffeln dachte und Hunger bekam.“
Damals hielt sie nur ein Gedanke aufrecht:
„Ich gebe nicht auf.“
In der Hand hält sie den Smaragd, das Lichtgeschenk des grünen Delphins, der ihr Freund ist.
So allein ist die junge Frau, die zarte Feingliedrige in den roten Gewändern der heiligen Tänzerinnen.
Als Außenstehende frage ich mich:
Wo nahm Marie diesen Mut her?
Warum hat sie ausgerechnet diesen Weg gewählt?
Wohin führt er sie?
Wohin er führt, der Weg?
Marie würde es so beschreiben:
„Ich ging zu den Klippen der Zeit und folgte dem Rand des raumlosen Kraters. Mein Ziel war das Feuerportal mit dem janusköpfigen Aufsatz. Dieses hatte ich zu durchschreiten. Ein bezwingender Traum gebot es mir.“
Aber als es soweit ist, reißt die Zeit ihr Maul auf, wie ein gefährliches Raubtier. Es zeigt spitze Reißzähne, doppelreihig und kommt daher wie ein Drache – scheppernd, rasselnd, ratternd. Der Lärm zingelt Marie ein. Gefangen!
„Nein,“ ruft Marie, “ ich habe mich an einem großen Stein festgehalten, mich dahinter versteckt, und dann war es plötzlich vorbei. Ich bin einem sandigen Weg gefolgt und sah Tageslicht. Es blendete mich.“
Und dann war da nichts mehr, Blackout!
Marie weiß bis heute nicht, ob sie ihre Aufgabe erfüllt hat. Aber sie weiß, warum sie die Reise getan hat.
Um ihn zu finden, den Geflügelten, den Gefiederten, ihren Gefährten. Eine lange, gefährliche Reise würde sie unternehmen müssen, hat jemand ihr prophezeit, um ihn zu finden am anderen Ende der Welt.
Während Marie das erinnert, schlagen die Gefühle über ihr zusammen. Es ist wieder Flut – Sehnsuchtsflut! Schon so lange, immer wieder.
„Wird sich das jemals ändern.“ fragt sie sich, „Ebbe, Flut,die Gezeiten!“
„Vielleicht!“ spricht von fern eine tiefe Stimme.
Ein nagendes Gefühl bleibt zurück, wie Hunger. Sie hat ihn nicht gefunden.
In der Höhle war sie bergauf gelaufen, bis ihr die Puste ausging und sich linkerhand eine Nische fand, in der sie keine Angst verspürte. Sie trat ein, setzte sich auf den Boden und lauschte eine Weile dem eigenen Herzschlag – konzentriert – er füllt allen Raum um sie. Fast schien es, als würden die felsigen Wände ein Echo schreien. Längst hatte sie sich an die Dunkelheit gewöhnt. Langsam, ganz langsam beruhigte sich das Herz, aber immer noch holperte es, als sei da ein Stein im Weg, der übersprungen werden müsse. Marie konzentrierte sich nun auf den Atem, der zunächst stoßweise – orkanartig aufflaute. langsam, ganz langsam legte sich der Sturm und der Wind im Atem wurde klein und sanft.
Bewusst lenkte Marie ihre Aufmerksamkeit auf den Bauchraum und die innere Stimme, die aus dem Nabel zu ihr zu sprechen schien:
„Verlass den Berg, Marie, du bist einer Spur gefolgt, die dich viel zu weit weggeführt hat von dir selbst. du musst zu dir zurückfinden.“
„Aber, ich war so sicher, das richtige zu tun und jetzt soll alle Mühe umsonst sein?“
„Marie, ich will dich beschützen. Du bist mein und ich bin dein – für immer! Ohne einander fehlt etwas Wesentliches, und wir irren. abblitzen lasse ich mich nicht mehr so einfach. Du hast mich schon viel zu lange ignoriert.“
„Hm? Soll ich dir wirklich glauben?“
„Marie, du bist in Gefahr.“
„Ich weiß, ich spüre die Schatten näher kommen.“
„Sag mir eins: wie soll Leander dich finden, wenn du dich selbst verloren hast?“
„Aber, er ist doch einfach gegangen, und hat sich zwischen den Zeiten verloren.“
„Nein, Marie, tief in deiner Seele weißt du es besser, er ist gegangen, um sich zu finden“
„Aber er hatte doch mich. Ich fand ihn zu Beginn der Zeit.“
„Stimmt, du hast ihn gefunden. Aber er hat sich in dir verloren. Ein Mensch muss gehen und Abstand suchen, wenn er sich in einem anderen verliert.“
„Du meinst, Menschen können füreinander nichts sein, wenn sie sich verlieren?“
„Nein, sie werden seelenlos. Wenn sie beginnen, sich nicht mehr zu sehen, lösen sie sich auf, werden zum nichts. man kann kein Nichts lieben. Ein Nichts ist unfassbar. Es kann kein Freund, kein Gefährte, kein Geliebter sein.“
„Lass mir etwas Zeit, ich muss essen und trinken.“
Marie nahm ihr Bündel und knüpfte es auf. Irgendwo musste da noch was Essbares sein.
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